Hans-Werner Carlhoff über Jugendsekten und Psychogruppen


mit der freundlichen Genehmigung zur neuerlichen Veröffentlichung von Hans-Werner Carlhoff

Dieses Interview wurde seinerzeit, im Jahr 1995, vom Verfasser der online Zeitschrift "Der Missionar" geführt.
Die
von Herrn Carlhoff damals dargestellten Inhalte und Intentionen bezogen sich konktet auf die Situation zu diesem Zeitpunkt,
haben jedoch für ihn auch heute (2011) nicht an Aktualität verloren.



Missionar: Früher wurde unter dem Begriff "Sekte" eine Gruppierung verstanden, die sich von einer grösseren Religion abgespalten hat. Was versteht man heute darunter?

Hans-Werner Carlhoff: Im staatlichen Bereich gibt es den Ausdruck "Sekte" überhaupt nicht. Vielmehr spricht man von sogenannten Jugendsekten und Psychogruppen, wobei dies eine Beschreibung ist, die durch verschiedene Rechtsverfahren abgesichert ist und natürlich keineswegs meint, dass hier nur Jugendliche angesprochen würden oder die Mitglieder Jugendliche wären.


Missionar: Es ist sogar  eine  interministerielle Arbeitsgruppe eingerichtet worden, d.h. irgendetwas stimmt nicht mit diesen Jugendsekten. Was ist das Gefährliche?

Hans-Werner Carlhoff: Wir haben ja oft die Situation, dass  Leute mit grosser Begeisterung sich von einer Sache einfangen lassen und gar nicht merken, dass sie selbst Opfer sind. Opfer, das bedeutet, dass sie ausgebeutet und manipuliert werden, auch psychisch. Opfer bedeutet ferner, dass die Menschen finanziell ausgenommen werden, dass sie unbewusst Trennungsbefehle wahrnehmen. Natürlich garantieren die Grundrechte unserer Verfassung zunächst die Freiheit für jeden, sich dort zu beschäftigen und sich zu engagieren, wo er will. Aber wenn Rechte anderer beeinträchtigt werden oder es zu psychischen Manipulationen kommt oder zu Situationen, wie z.B. öffentlich nicht kontrollierter Gerichtsbarkeit oder undemokratischen Herrschaftsverhältnissen und quasi politischen Machtstrukturen, ist unser Staat in der Tat dazu aufgerufen, nicht nur vor solchen Verhältnissen zu warnen, sondern wenn notwendig auch strafrechtlich gegen Gruppierungen vorzugehen, möglicherweise auch unter Einschaltung des Verfassungsschutzes.


Missionar: Mit welcher Motivation wird denn überhaupt so eine Gruppierung gegründet. Ist es - wie man dem Scientology-Gründer Hubbard nachsagt - Geldgier, oder glauben die Gründer selber irgendwann mal dran?

Hans-Werner Carlhoff: Die Motivationen, wie solche Gruppierungen entstehen, sind sehr vielfältig.


Missionar: Würden Sie sagen, diesen Führungsgruppen solcher Jugendsekten geht es eigentlich gar nicht um Religion, sondern einfach nur um Macht und Geld?
 

Hans-Werner Carlhoff: Nein, das würde ich eigentlich nicht sagen; ich glaube schon, dass es bei bestimmten Leuten sowas wie religiösen Wahn gibt und dass man sich selber als Stifter von irgendwelchen Dingen erlebt und auch sehr schnell seine Jüngerschaft für diese Gruppierung hat. Sicherlich ist zwischen Gruppierungen zu differenzieren, bei denen Religion nur zur Tarnung von wirtschaftlicher Betätigung dient und Gruppen, die durchaus in Anspruch nehmen können, bestimmte, auch neue religiöse Formen zu leben, und diesen Anspruch auch einfordern, beispielsweise unter dem Signum des Schutzes des Artikel 4 des Grundgesetzes.


Missionar: Weshalb gehen angehende Sektenmitglieder zu so einer Gruppierung?

Hans-Werner Carlhoff: Die Ursachen, warum jemand hier in eine Gruppierung reingeht, dürften wohl unglaublich unterschiedlich sein. Ich kann es eigentlich nur von der Opfersituation her rekonstruieren. Das können z.B. entwicklungsbedingte Kommunikationsstörungen sein, das können Frustrationen sein gegenüber dem Partner, das können auch Dinge sein, sich ganz bewusst von anderen Leuten abzuheben. Gründe können auch darin liegen, dass man meint, einen "Ruf" bekommen zu haben oder dass man einfach in einer schlechten Stimmung ist und dann durch Zufall auf eine Propaganda-Schrift stösst und denkt: "Mensch, das wär' doch was für mich, meine Probleme zu lösen."


Missionar: Nicht jeder, der angeworben wird, tritt auch gleich einer Sekte bei. Wie hoch sind die Erfolgsquoten dieser Gruppierungen?

Hans-Werner Carlhoff: In der Tat würde ich die "Erfolgsquoten" als sehr unterschiedlich ansehen; in jedem Fall sind sie niedriger als die "Erfolgsmeldungen" der Gruppierungen. Wenn beispielsweise Scientology angibt, dass sie die "schnellst wachsende Religion" usw. wäre, ist dies für mich reine Propaganda, mit der Druck auf die Mitglieder und die Öffentlichkeit ausgeübt werden soll.


Missionar: Haben Sie einen Überblick, wieviele Gruppierungen dieser Art es insgesamt in der Bundesrepublik gibt?

Hans-Werner Carlhoff: Ich kann nur für Baden-Württemberg sprechen. Es ist so, dass uns derzeit hier beim Kultusministerium rund 120 verschiedene Gruppierungen begegnet sind. Das bedeutet - ohne dass wir selbst ermitteln -, dass uns aufgrund von Reaktionen der Bürger über 120 verschiedene Gruppierungen bekannt geworden sind.


Missionar: Welche Zielgruppen werden von den Sekten besonders angesprochen?

Hans-Werner Carlhoff: Mit Sicherheit in erster Linie nicht Jugendliche, sondern Leute, die auf der "Suche" sind: auf der Suche nach ihrer eigenen Identität, nach ihren eigenen persönlichen Lebenszielen; diese sind dankbare Abnehmer für solche Gruppierungen und für deren Ziele. Somit können auch durchaus beruflich erfolgreiche Leute in solche Gruppen geraten, das sind also nicht nur Leute mit einer Macke. Viele Menschen denken sehr kritisch z.B. über die etablierten Kirchen; viele haben möglicherweise auch keinen religiösen Hintergrund mehr und sind auch so aufgewachsen; für solche Menschen kann dann die Begegnung mit solchen Gruppen ein gewisses Schlüsselerlebnis bedeuten. Es sind aber auch Angebote von den Gruppierungen, die Heilung und Lebenshilfe erwarten lassen, so dass Leute, die z.B. gesundheitliche Probleme haben, auch psychologische Probleme, die unzufrieden sind, die Ängste haben, leicht angesprochen werden können.


Missionar: Wie kommen die Gruppierungen an ihre Zielgruppen heran?

Hans-Werner Carlhoff: Also, durch die verschiedensten Methoden, da werden auch modernste Techniken eingesetzt, beispielsweise Vernetzung von Computerangeboten. Einige Gruppen operieren mit Fernübertragungen von Sendungen oder mit Videotechnik. Vor allem aber werden Bücher und Schriften eingesetzt, die teilweise sehr aufwendig gestaltet sind - grafisch wie auch vom Layout und textlich - und die werbepsychologisch ausserordentlich geschickt aufbereitet sind. Das sind keineswegs nur Primitivmedien, die für die Werbung eingesetzt werden.


Missionar: Irgendwann ist der Punkt erreicht, wo das Opfer tut, was man ihm vorschreibt, und sich völlig kritiklos der Sache hingibt. Wie kommt es dazu?

Hans-Werner Carlhoff: Ich denke, dass die Gruppen auch mit Angst und Sanktionen arbeiten. Keineswegs ist hier alles freiwillig, sondern vielmehr "vordergründig" freiwillig, indem gesagt wird, jeder bestimmt selber. Tatsächlich wird man aber weichgeklopft durch bestimmte Psychotechniken, so dass ich mir gut vorstellen kann, dass den Mitgliedern gar nichts anderes übrigbleibt als mitzumachen.


Missionar: Über kurz oder lang kommt es dazu, dass die Opfer sich entschlossen haben, ihre Arbeit aufzugeben und ihre Arbeitskraft ganz der Gruppe zur Verfügung zu stellen. Dafür erhalten sie in der Regel sehr geringe Bezahlung und keinerlei soziale Absicherung. Wie kann es möglich sein, dass sich Sekten als Arbeitgeber aus der gesetzlichen Verantwortung ziehen?

Hans-Werner Carlhoff: Das ist Schnee von gestern. Diese Gruppierungen sind schon viel schlauer. Es wird so operiert, dass diejenigen, die die Dinge vermarkten müssen, als "Selbständige" agieren. Sie müssen selber für ihre Krankenversicherung sorgen und für ihre Altersvorsorge. Es gibt genügend Arbeitsverhältnisse, die nicht sozialversicherungspflichtig sind, sog. 580-DM-Arbeits- verträge. Das wissen die Gruppierungen, ...


Missionar: .. und zahlen entsprechend wenig...?

Hans-Werner Carlhoff: ... und halten sich schadlos. Die Mitglieder werden aufgefordert, solche Arbeitsverträge einzugehen. Rein rechtlich sind die Gruppierungen somit aus dem Schneider, weil ihnen nichts nachzuweisen ist. Sie machen sich nicht strafbar. Die ganze Verantwortung haben dann die Menschen, die hier arbeiten.


Missionar: Sekten sollen ihr Geld  oft in lukrative Wirtschaftsunternehmen investieren. Wieviel kriegt die Basis davon mit?

Hans-Werner Carlhoff
: Es ist nicht auszuschliessen, dass diese "Investitionen" als Geldwaschanlagen dienen. Den Mitgliedern wird möglicherweise suggeriert, einem machtvollen Verein anzugehören. Da werden Hoffnungen geweckt, im Jahr 2000 haben wir Deutschland "geklärt", Europa oder was auch immer.


Missionar: Dann wird also gesagt: Uns gehört dieser oder jener Betrieb, wir sind schon richtig gross. Oder wie wird da vorgegangen?

Hans-Werner Carlhoff
: Einerseits schon. Zumindest bei Scientology gibt es sog. WISE-Member, also Repräsentanten von Scientology-Unternehmen. Insofern könnte man davon sprechen, dass sich auch regelrechte Kartelle bilden können.


Missionar: Würden Sie sagen, die Sekten züchten sich ihre Zombies?
 

Hans-Werner Carlhoff: Aus der Opfersituation kann man das so sehen. Die Leute in diesen Gruppierungen sind nicht mehr die, die sie vorher waren, auch was die Lebensperspektive angelangt. Insofern ist es ganz wichtig, dass man für diese Opfer Ansprechpartner hat.


Missionar: Die Opfer fühlen sich in der ersten Phase richtig blendend. Wie kann man denn demjenigen klarmachen, dass eine weitere Mitgliedschaft in dieser Gruppe verhängnisvoll ist?

Hans-Werner Carlhoff
: Da können Sie fast nichts machen. Wenn jemand in dem System drin ist, dann ist er absolut fremdbestimmt und auch unter  einer starken  Kontrolle.  Ich rate, wenigstens Kontakt zu halten. Das ist aber auch ein brenzliges Thema. Wenn zum Beispiel eine Freundin sagt, sie hält Kontakt, läuft sie Gefahr, selber auch in das System hineinzukommen. Ausserdem ist Angehörigen zu raten, den Betroffenen kein Geld zukommen zu lassen, weil dies garantiert von der Gruppierung einkassiert wird.


Missionar: Was muss das Sektenmitglied tun, um bei der Gruppe dabeibleiben zu dürfen oder andersrum gefragt: Was muss es ertragen?

Hans-Werner Carlhoff
: Das sind unglaubliche Demütigungen auf der einen Seite, aber es wird dort mit Zuckerbrot und Peitsche gearbeitet. Da sorgen schon andere dafür, dass man dabei bleibt.


Missionar: Die Sekten behaupten, dass man jederzeit die Gruppe wieder verlassen kann. Was ist die Aussage wert?

Hans-Werner Carlhoff
: Das behauptet sogar Scientology. Aber ich kann nachweisen, dass Namen und Adressen noch 8 oder 10 Jahre nach dem letzten Kontakt in den Computern dieser Gruppe gespeichert sind und somit wird es wohl mit einem "Loslassen" nicht sehr weit her sein. Ich weiss von einem Fall, da hatte der Betroffene Selbstmord begangen, trotzdem wurde noch jahrelang später von Scientology an die Adresse Post geschickt. Sogar nach dem Tode scheint die  Gruppierung einen noch nicht mal frei zu lassen.


Missionar: "Die Türen stehen offen." Das ist wohl nicht so?

Hans-Werner Carlhoff
: Rein rechtlich sicherlich schon. Wie es hier tatsächlich aussieht, das wissen wenige. Ich halte das auch gar nicht für so furchtbar relevant. Denn wenn sich jemand unbedingt an eine Gruppierung binden möchte, dann ist er dabei, und man wird ihm dort immer wieder deutlich machen, dass man ihn braucht.


Missionar: Wie kann man sich vor dem Einfluss von Sekten schützen?

Hans-Werner Carlhoff
: Wenn nur eine Meinung gilt, wäre dies für mich ein Alarmsignal. Ich denke, man sollte sich deshalb die Kritikfähigkeit erhalten, trotz aller Überredungskünste und schöner Worte dieser Gruppen.



Hans-Werner Carlhoff ist Leiter der baden-württembergischen Interministeriellen Arbeitsgruppe für Fragen sog. Jugendsekten und Psychogruppen. Die Arbeitsgruppe ist organisatorisch beim Kultusministerium angegliedert. Bevor Hans-Werner Carlhoff 1993 die Nachfolge des zurückgetretenen Hartmut Hauser antrat, war er Geschäftsführer der Aktion Jugendschutz (ajs), Baden-Württemberg in Stuttgart.

Copyright © für den Text bei Hans-Werner Carlhoff, HTML von Ilse Hruby
                                                                                  

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