Individuum hinweggefegt

Der amerikanische Sektenexperte Steven Hassan über Sekten und Bewusstseinskontrolle

mit der freundlichen Genehmigung zur Veröffentlichung von Steven Hassan
with the friendly permission 
by Steven Hassan; Freedom of Mind Press

Kennen Sie jemanden, der durch die Zugehörigkeit zu einer Gruppe einen radikalen Persönlichkeitswandel durchlaufen hat? Die Wahrscheinlichkeit ist ziemlich gross, dass jemand aus Ihrer engeren Umgebung durch den Kontakt zu einer extremen Sekte geschädigt worden ist. Falls nicht, dann ist es vermutlich nur eine Frage der Zeit.

In den letzten 20 Jahren hat sich das Problem der totalitären Sekten zu einem Problem von enormer gesellschaftlicher und politischer Relevanz ausgewachsen. Sie treten in den unterschiedlichsten Formen und Grössen auf. Manche besitzen ein Millionenvermögen, andere sind ziemlich arm. Doch manche sind deutlich gefährlicher als andere. Nicht zufrieden damit, ihre Gewalt nur über das Leben ihrer Mitglieder auszuüben, verfolgen sie ein Programm, das sie an die politische Macht führen soll und mit dem sie die Gesellschaft, manche sogar die ganze Welt, umgestalten wollen.

Da alle totalitäre Sekten glauben, dass der Zweck die Mittel heiligt, meinen sie, über dem Gesetz zu stehen. Solange sie überzeugt sind, dass das, was sie tun, "richtig" und "gerecht" ist, haben viele von ihnen keinerlei Skrupel, ihre Ziele durch Lügen, Diebstahl, Betrug und unethische Praktiken der geistigen Manipulation zu erreichen. Sie treten die Freiheitsrechte der Menschen, die sie anwerben, mit Füssen. Sie machen arglose Menschen zu Sklaven.

Mit welchem Recht bezeichne ich eine Gruppe als totalitäre Sekte?  Zunächst einmal garantiert mir natürlich die Verfassung das Recht, meine Meinung frei zu äussern, solange ich damit niemanden verleumde. Wenn ich jedoch eine Gruppe als "totalitär" bezeichne, dann tue ich dies, weil sie bestimmte Kriterien erfüllt. Kurz gesagt ist es eine Gruppe, die die Rechte ihrer Mitglieder verletzt und sie durch unethische Praktiken der Bewusstseinskontrolle schädigt.

Ich trete uneingeschränkt für das Recht der Leute ein, zu glauben, woran immer sie wollen, egal wie abwegig oder unorthodox ihre Vorstellungen sein mögen.

Wenn jemand glauben will, dass Mun der Messias ist, so ist das sein Recht. Aber - und das ist ein ganz wesentlicher Grund - die Menschen sollten vor Einflüssen geschützt werden, mit denen man sie zwingt zu glauben, dass Mun der Messias ist. Wenn Täuschung, Hypnose und andere manipulative Mechanismen benutzt werden, um die Anhänger anzuwerben und zu kontrollieren, dann ist dies ein Verstoss gegen die Rechte der Menschen.

Während wir mit dem Begriff "Sekte" traditionell eine religiöse Gemeinschaft assoziieren, ist der heutige Sektenbegriff sehr viel weiter geworden und umfasst auch äusserst weltliche Gruppierungen. Wenn ich der Kürze halber viele Gruppen künftig einfach als "Sekte" bezeichne, so sind damit stets solche gemeint, die die Kriterien einer totalitären Sekte (oder destruktiven Kultes) erfüllen.

Anwerbung

Da sich totalitäre Gruppen gezielt Menschen aussuchen, die intelligent, talentiert und erfolgreich sind, haben die Sektenmitglieder eine grosse Überzeugungs- und Anziehungskraft auf Neulinge. Tatsächlich dürfte von der schieren Zahl überzeugter, engagierter Anhänger, denen der Neuling begegnet, eine viel stärkere Anziehungskraft ausgehen als von jeder Doktrin oder Struktur. Die grossen Sekten beweisen, dass sie sich  darauf verstehen, ihre "Verkäufer" gut zu schulen. Sie indoktrinieren ihre Mitglieder so, dass diese nur die besten Seite der Organisation offenbaren. Den Mitgliedern wird beigebracht, sämtliche negativen Gefühle in bezug auf die Gruppe zu unterdrücken.

Ein Akzeptieren der Tatsache, dass unethische Bewusstseinskontrolle jeden von uns treffen kann, würde eine uralte philosophische Auffassung in Frage stellen, auf der auch unsere gegenwärtigen Gesetze basieren: die Vorstellung nämlich, dass der Mensch ein rationales Wesen ist, verantwortlich für jede einzelne seiner Taten. Wenn jemand von dieser Sichtweise ausgeht, dann glaubt er, Sektenmitglieder hätten es sich rational "ausgesucht", ein anderes Leben zu führen. Ist derjenige erwachsen, so das Argument, dann hat er das Recht zu leben, wie immer es ihm beliebt.

Dieses Argument wäre richtig, wenn es keine Täuschungstechniken gäbe, die diese "Wahl" ungebührlich beeinflussten. Auch wenn es auf der Hand liegen mag, wir Menschen sind eben nicht vollkommen "rational". Vollkommene Rationalität würde unsere emotionale und körperliche Natur verleugnen. Ohne unsere Gefühle funktionieren wir nicht. Wir alle brauchen Liebe, Freundschaft, Zuwendung und Anerkennung in unserem Leben. Zum Beispiel würden die meisten sicher zustimmen, dass es wundervoll ist, sich zu verlieben. Auch würde niemand bestreiten, dass unser Körper einen immensen Einfluss darauf hat, wie wir funktionieren. Haben Sie mehrere Tage lang gar nicht oder nur wenig geschlafen? Wenn ja, dann bezweifle ich, dass Sie ohne Schlaf noch rational funktionierten und jede ihrer Handlung vollkommen im Griff hatten. Haben Sie schon einmal tagelang gefastet? Der Geist beginnt zu halluzinieren, wenn der Körper nicht genug zu essen bekommt. Unter solchen Bedingungen wird unsere Rationalität von unserer Körperlichkeit untergraben.

Als nächstes wäre da das Problem, dass wir uns gerne für unverwundbar halten. Wenn wir hören, dass jemandem etwas Schlimmes zugestossen ist, dann suchen wir gewöhnlich nach einer Erklärung, warum es ausgerechnet diesen Menschen getroffen hat. Man versucht also, in dem Vorfall eine direkte Beziehung von Ursache und Wirkung zu sehen: Wenn dem Menschen etwas Böses widerfahren ist, dann muss er auch etwas falsch gemacht haben. Obwohl es sicher seinen Sinn hat, abzuwägen, ob sich jemand vielleicht unvorsichtig verhalten hat, ist die Realität doch, dass der Betreffende schlicht zur falschen Zeit am falschen Ort war.

Häufig machen die Leute den Fehler, die Opfer von totalitären Sekten so zu beurteilen: "Was für ein schwacher Mensch. Er muss nach einem Weg gesucht haben, der Verantwortung zu entfliehen und jemand anderen sein Leben lenken zu lassen." Damit verleugnen sie die Tatsache, dass ihnen genau dasselbe passieren könnte.

Wie steht es mit der philosophischen Ansicht, dass letztlich doch "alles Bewusstseinskontrolle" ist? Sicherlich ist es richtig, dass wir unser Leben lang beeinflusst werden. Doch es gibt ein kontinuierliches Spektrum möglicher Einflussprozesse, das von wohlmeinenden Einflüssen am einen Ende (der Vorschlag eines Freundes, in einen bestimmten Kinofilm zu gehen) bis zu destruktiven am anderen Ende reicht, z.B. jemanden so zu indoktrinieren, dass er sich umbringt oder andere verletzt (Jonestown).

Der Begriff "Bewusstseinskontrolle" bezeichnet eine Anzahl von Techniken zur Beeinflussung der Gedanken, Gefühle und Handlungen einer Person. Wie die meisten Wissensgebiete ist auch dieses per se weder gut noch schlecht. Wenn Techniken der Bewusstseinskontrolle eingesetzt werden, um jemanden zu mehr Wahlmöglichkeiten zu verhelfen, so kann dies sehr positive Auswirkungen haben. Wenn Bewusstseinskontrolle jedoch benutzt wird, um das Glaubens- und Wertesystem eines Individuums ohne sein Wissen und ohne seine Einwilligung zu verändern und den Betreffenden von externen Autoritätsfiguren abhängig zu machen, kann das wahrhaftig verheerende Auswirkungen haben.

Manche totalitäre Gruppen machen ihre Mitglieder praktisch zu Süchtigen. Jemand, der darauf gedrillt ist, täglich exzessiv (stundenlang) zu meditieren oder zu chanten, kann geistig und körperlich süchtig nach dieser Psychotechnik werden.

Angst: Die Kraft, die Sektenmitgliedern ihre Freiheit raubt

Kennen Sie jemanden, der schon einmal eine Phobie (eine krankhafte Furcht, d. Red.) hatte? Sie selbst vielleicht? Zu den häufigsten Phobien zählen Angst vor dem Fliegen, Sprechen vor Publikum, Aufzügen, Fahren durch Tunnels oder über Brücken sowie vor bestimmten Tieren wie Schlangen, Spinnen und sogar Hunden. Phobien können Menschen lähmen und sie daran hindern, das zu tun, was sie wirklich wollen. Ja, sie können den Betroffenen seiner Entscheidungsfreiheit berauben.

Was haben solche Ängste mit Sekten und Bewusstseinskontrolle zu tun? Manche Sekten erzeugen in ihren Mitgliedern systematisch krankhafte Ängste vor einem Ausstieg aus der Gruppe. Die modernen Sekten verstehen sich darauf, ihren Mitgliedern lebendige Schauerbilder tief ins Unbewusste einzupflanzen, so dass sie sich schliesslich nicht mehr vorstellen können, ohne die Gruppe jemals wieder glücklich und erfolgreich sein zu können. Wenn das Unbewusste darauf programmiert wird, diese negativen Bilder anzunehmen, dann verhält es sich so, als seien sie real. Im Unbewussten wird eine beträchtliche Sammlung von Bildern all der schrecklichen Dinge verankert, die eintreffen sollen, wenn einer die Gruppe verlassen sollte. Je nach Organisation wird den Mitgliedern entweder offen oder auf subtile Weise einprogrammiert, sie würden an einer schlimmen Krankheit sterben, von einem Auto überfahren werden, bei einem Flugzeugabsturz ums Leben kommen oder gar den Tod eines geliebten Menschen verschulden, wenn sie jemals austreten würden. Solche Gedanken sind natürlich völlig irrational und unsinnig. Die Sekten erzeugen und implantieren Ängste so geschickt, dass die Opfer nicht einmal ihrer Existenz bewusst sind. Sie denken, sie seien so glücklich in der Gruppe, dass sie niemals austreten möchten. Diese Menschen sind nicht imstande, sich positive Bilder von sich selbst nach dem Ausstieg aus der Gruppe zu machen.

Stellen Sie sich vor, wie das wäre, wenn Sie in dem Glauben lebten, irgendwelche mysteriösen Unbekannten wollen Sie vergiften. Wenn diese Überzeugung ganz tief in Ihrem Unterbewusstsein verankert wäre, glauben Sie, Sie wären noch in der Lage, zum Essen auszugehen und Ihre Mahlzeit zu geniessen? Wie lange würde es wohl dauern, bis Sie nur noch Sachen essen würden, die Sie eigenhändig eingekauft und zubereitet haben? Und wenn durch Zufall jemand, mit dem Sie gemeinsam in einem Restaurant gegessen haben, plötzlich sehr krank würde, wie lange würde es dann wohl dauern, bis Sie am liebsten gar nichts mehr essen wollten? Natürlich könnten Sie Ihr Verhalten plausibel machen, indem Sie Ihren Freunden erzählen, dass Sie grundsätzlich nicht gerne auswärts essen oder dass Sie Diät halten müssen. Tatsächlich gehört jedoch die Möglichkeit, einfach in ein Restaurant zu gehen und eine gute Mahlzeit zu geniessen, nicht länger zu den Alternativen, aus denen Sie wählen können.

Auf die gleiche Art nehmen die von den Sekten generierten Ängste den Menschen ihre Wahlmöglichkeiten. Die Mitglieder glauben wirklich, sie würden zugrunde gehen, wenn sie jemals die Sicherheit der Gruppe verliessen. Sie werden durch diese manipulative Technik regelrecht versklavt.

Schwindler sind professionelle Lügner. Ihr grösstes Kapital sind ihr Äusseres und ihr schauspielerisches Talent. Die meisten Opfer von Betrügern sagen, dass sie demjenigen vertrauten, weil er (oder sie) "gar nicht wie ein Verbrecher aussah". Die erfolgreichen Betrüger tun dies nie. Sie strahlen eine "Menschlichkeit" aus, die es ihnen ermöglicht, die Schutzmechanismen ihrer Opfer zu umgehen. Sie sind meist sehr redegewandt, machen aber keinen allzu "gewieften" Eindruck. Das würde sie verraten. Ein Betrüger will das "Ziel" eintaxieren, seinen Betrug durchziehen, das Geld kassieren und sich aus dem Staub machen.

Sektenwerber benutzen oft die gleichen Taktiken, nur dass sie einen zum Beitritt bewegen wollen. Fast alle von ihnen waren selbst einmal Opfer. Sie glauben, Ihnen damit wirklich etwas Gutes zu tun. Doch sie wollen etwas, das wertvoller ist als Ihr Geld. Sie wollen Ihre Seele! Am Ende kassieren sie natürlich auch Ihr Geld. Aber sie machen sich nicht aus dem Staub wie gewöhnliche Verbrecher. Im Gegenteil, sie wollen, dass Sie zu ihnen ziehen. Nicht nur das, sie wollen auch, dass Sie anderen das gleiche antun.

Ob es uns gefällt oder nicht - jeder ist verletzlich durch Bewusstseinskontrolle. Jeder will glücklich sein. Jeder braucht Liebe und Zuneigung. Jeder strebt nach Besserem im Leben: mehr Weisheit, mehr Wissen, mehr Geld, mehr Status, mehr Sinn, bessere Beziehungen, bessere Gesundheit. Genau auf diese grundlegenden menschlichen Eigenschaften und Sehnsüchte spekulieren die Sektenwerber. Man muss sich immer wieder klarmachen, dass in den meisten Fällen die Leute nicht den Sekten beitreten: Die Sekten werben die Leute an.

Die wichtigsten Anwerbemethoden

Es gibt drei grundlegende Methoden der Annäherung: durch einen Freund oder Verwandten, der bereits Mitglied in der Gruppe ist, durch einen Fremden, der sich mit einem anfreundet (oft vom anderen Geschlecht), oder durch eine von der Sekte gesponserte Veranstaltung, z.B. einen Vortrag, Symposium oder Film. Sehr oft ahnt der Angesprochene gar nicht, dass er angeworben wird. Untersuchungen  über   Sektenanhänger und Ehemalige haben gezeigt, dass die meisten von ihnen in einer schwierigen Stressphase in ihrem Leben angesprochen wurden. Dieser Stress ist oft durch einen grösseren Umbruch verursacht: Umzug in eine andere Stadt, eine neue Stelle, eine gescheiterte Beziehung, finanzielle Schwierigkeiten, Tod eines geliebten Menschen. In solchen Situationen sind Schutzmechanismen der Menschen häufig überlastet oder geschwächt. Wenn sie nicht wissen, wie sie totalitäre Sekten erkennen und meiden können, sind sie leichte Beute.

Es ist wichtig zu erkennen, dass eine Anwerbung nichts ist, was einfach passiert. Vielmehr ist es ein Prozess, der einem aufgezwungen wird. Vollblutgeschäftsleute, ständig unter Konkurrenzdruck und getrieben vom Erfolgszwang, werden von Kollegen angeworben, die ihnen von dem unglaublichen Nutzen des "Kurses" erzählen. Andere kommen durch ein persönliches Medium mit einer Sekte in Kontakt. Bei manchen fängt es damit an, dass sie sich ein Sektenbuch kaufen. Andere bekommen mit der Post eine Einladung zu einer scheinbar harmlosen "Bibelstunde". Wieder andere melden sich auf eine Anzeige oder werden angeworben, wenn sie bei einer sekteneigenen Firma anfangen.

Wie immer auch die Annäherungstaktik aussieht, irgendwann wird der persönliche Kontakt hergestellt. Der Werber versucht nun, alles über den zu Werbenden in Erfahrung zu bringen - seine Hoffnungen, seine Träume, seine Ängste, seine Beziehungen, seinen Beruf, seine Interessen. Je mehr Informationen er entlocken kann, desto besser seine Chancen, den Betreffenden zu manipulieren.

Der Werber legt sich eine Strategie zurecht, wie er die Zielperson Schritt für Schritt in die Gruppe locken kann. Dazu können etwa gehören: überschwängliches Lob und Schmeicheleien, Bekanntmachen mit einem anderen Mitglied mit ähnlich gelegenen Interessen und einem ähnlichen Hintergrund, bewusste Täuschung über die Gruppe, Ausweichmanöver, um Fragen nicht zu beantworten.

Interessant ist, dass Sekten es generell vermeiden, Menschen zu werben, die eine Belastung für sie sein könnten, z.B. Menschen mit ernsthaften emotionalen oder psychologischen Problemen. Sie wollen Leute, die dem zermürbenden Alltag in der Sekte gewachsen sind. Meines Wissens findet man praktisch keine Sektenmitglieder mit Behinderungen, denn es kostet Zeit, Geld und Mühe, sich um sie zu kümmern. In destruktiven Sekten gibt es kein soziales Bewusstsein.

Leben in der Sekte

In den ersten Wochen oder Monaten nach dem Beitritt durchlebt der Neubekehrte meist eine euphorische Phase. Er wird behandelt wie ein König. Man sorgt dafür, dass er sich als etwas ganz Besonderes fühlt, wenn er sein neues Leben mit der Gruppe beginnt. Die meisten Sektenmitglieder erzählen zwar, sie seien "glücklicher als je zuvor im Leben", doch leider sieht die Realität ganz anders aus. Das Leben in einer totalitären Sekte ist in erster Linie ein Leben des Opfers und des Schmerzes. Leute, die sich vollzeitlich einer totalitären Sekte widmen, wissen, was es bedeutet, unter totalitärer Herrschaft zu leben, können aber objektiv nicht erkennen, was mit ihnen geschieht. Sie leben in einer von der Gruppe geschaffenen Phantasiewelt. Die Mitglieder einiger Sekten verbringen oftmals ihre gesamte Zeit mit Mitgliederwerbung, Geldsammeln oder PR-Projekten. Sobald die Leute richtig angebissen haben, übereignen sie der Gruppe einen Grossteil ihres Vermögens, manchmal alles, was sie besitzen. Dafür verspricht man ihnen Fürsorge und Sinn für den Rest ihres Lebens. Durch diese Transaktion sind die Betroffenen fortan in allem auf die Gruppe angewiesen: Essen, Kleidung, Unterkunft, ärztliche Versorgung. Häufig mangelt es an medizinischer Versorgung. Ein Mitglied, das eine kostspielige Behandlung braucht, wird oftmals zu seiner Familie zurückgeschickt, damit diese die Rechnung übernimmt. Die Kinder werden häufig gemeinschaftlich aufgezogen und dürfen ihre Eltern nur selten sehen. Man bringt ihnen bei, sich nur dem Sektenführer oder der Gruppe als Ganzem verbunden zu fühlen, nicht den leiblichen Eltern. Ihre Zeit zum Spielen wird begrenzt oder ihnen ganz versagt. Wie ihren Eltern, so wird ihnen beigebracht, dass die Welt ein feindseliger und böser Ort ist, und sie werden von der Sektenlehre abhängig gemacht, um die Realität zu begreifen.

Zu den Leidtragenden der in Sekten betriebenen Bewusstseinskontrolle zählen nicht nur Millionen Sektenmitglieder selbst, ihre Kinder, Freunde und Verwandten, sondern auch unsere Gesellschaft. Sie wird ihrer wertvollsten Ressourcen beraubt: intelligenter, idealistischer, ehrgeiziger Menschen, die einen grossen Beitrag für die Menschen leisten könnten. Viele der Freigekommenen, die ich kenne, sind Ärzte, Lehrer, Berater oder Künstler geworden. Was wäre, wenn sie ihre Energien für die Lösung von Problemen verwenden würden, anstatt zu versuchen, die freiheitliche Ordnung mit irgendeiner abstrusen totalitären Vision zu untergraben?

Wohl eine der wichtigsten Erkenntnisse im Umgang mit totalitären Sekten ist, dass wir alle anfällig sind. Um uns zu schützen, sollten wir uns so gut wie möglich darüber informieren, wie Sekten arbeiten. Wenn Sie den Verdacht haben, dass jemand in Ihrem Bekanntenkreis unter dem Einfluss einer Organisation gerät, die Bewusstseinskontrolle betreibt, sollten Sie unverzüglich kompetente Hilfe suchen.

Bewusstseinskontrolle

Die von Sekten praktizierte Bewusstseinskontrolle ist ein sozialer Prozess, oft verstärkt allein durch die Grösse der Gruppe. Sie wird erwirkt, indem man eine Person in ein soziales Umfeld taucht, in dem sie nur dann funktionieren kann, wenn sie ihre alte Identität abwirft und die neue, von der Gruppe gewünschte, annimmt. Jedes bisschen Realität, das an die frühere Identität erinnern könnte - alles, was das alte Selbstverständnis bestärken könnte - wird beiseite gestossen und durch die Realität der Gruppe ersetzt. Häufig kommt es zu einem radikalen Persönlichkeitswandel und zu einem kompletten Bruch mit dem bisherigen Lebensweg.

Lassen Sie mich nochmals entschieden betonen, dass ich, wenn ich hier von "Bewusst- Bewusstseinskontrolle" spreche, speziell das schädliche, das destruktive Ende des Einflussspektrums meine. Der Begriff "Bewusstseinskontrolle" bezieht sich in diesem Buch nicht auf bestimmte Techniken zur Verbesserung der persönlichen Kontrolle und Erweiterung der Wahlmöglichkeiten. Vielmehr sind nur solche Systeme gemeint, die dazu dienen, die Entscheidungsfreiheit des einzelnen zu untergraben. Das Wesen von Bewusstseinskontrolle besteht darin, dass sie Abhängigkeit und Konformität unterstützt und Selbständigkeit und Individualität unterdrückt.

Nicht nur, was Bewusstseinskontrolle ist, sollte man verstehen; ebenso wichtig ist es, zu begreifen, was Bewusstseinskontrolle nicht ist. In der öffentlichen Diskussion wird der Begriff oft mit "Gehirnwäsche" gleichgesetzt. Bewusstseinskontrolle ist keine Gehirnwäsche. Gehirnwäsche ist stets gewaltsam. Das Opfer weiss von vornherein, dass es sich in Feindeshand befindet. Bewusstseinskontrolle, auch "Gedanken- Reform" genannt, funktioniert subtiler und raffinierter. Die Betreiber werden als Freunde oder Gleichgesinnte angesehen, daher verhalten sich die Opfer kaum defensiv. Ahnungslos kooperieren sie mit den vermeintlichen Vertrauenspersonen und geben Informationen über sich preis, die später gegen sie verwendet werden. Bewusstseinskontrolle ist kaum oder gar nicht mit offener körperlicher Misshandlung verbunden. Statt dessen werden hypnotische Prozesse mit Gruppendynamik kombiniert, um einen starken Indoktrinationseffekt zu erzielen. Das Individuum wird durch Täuschung und Manipulation - nicht durch direkte Drohung - dazu gebracht, die vorgeschriebene Wahl zu treffen. Insgesamt reagiert es positiv auf das, was man mit ihm macht. Hypnosetechniken zählen in mannigfaltiger Weise zu den unethischen Praktiken der Bewusstseinskontrolle in totalitären Sekten.

In vielen Sekten, die vorgeben, religiös zu sein, ist das, was sich oft "Meditation" nennt, in Wahrheit nichts anderes als ein Prozess, durch den die Sektenmitglieder in eine Trance versetzt werden. In diesem Zustand können sie Suggestionen aufnehmen, die sie empfänglicher für die Sektenlehre machen. Ein Trancezustand ist zudem meist ein angenehmes, entspannendes Erlebnis, so dass die Leute ihn möglichst oft erreichen möchten. Vor allen Dingen ist klinisch erwiesen, dass im Trancezustand die kritischen Fähigkeiten stark vermindert sind. Man ist in Trance weniger als im normalen Wachbewusstsein imstande, erhaltene Informationen zu bewerten.

Die vier Komponenten der Bewusstseinskontrolle

Nach meinem Verständnis lässt sich dieses Phänomen weitgehend erfassen, indem man die drei Komponenten analysiert, die der Psychologe Leon Festinger im Rahmen seiner sogenannten "Theorie von der kognitiven Dissonanz" entwickelt hat. Diese Komponenten sind Verhaltenskontrolle, Gedankenkontrolle und Gefühlskontrolle. Jede einzelne Komponente hat einen starken Einfluss auf die beiden anderen: Ändert man eine, so tendiert die andere dazu, sich anzupassen. Gelingt es, alle drei zu verändern, so wird das Individuum gleichsam hinweggefegt. Aus meiner Beschäftigung mit totalitären Sekten habe ich jedoch eine weitere, ganz wesentliche Komponente hinzugefügt: die Informationskontrolle. Durch eine Kontrolle über die Informationen, die jemand erhält, schränkt man seine Möglichkeiten ein, frei und eigenständig zu denken. Ich bezeichne diese Faktoren als die vier Komponenten der Bewusstseinskontrolle. Wir wollen nun die einzelnen Komponenten näher betrachten.

Verhaltenskontrolle

Unter Verhaltenskontrolle versteht man die Regelung der physischen Realität des Individuums. Dies beinhaltet die Kontrolle der Umwelt des Menschen - wo er lebt, wie er sich kleidet, was er isst, wieviel Schlaf er bekommt -, ebenso wie der Arbeit, Rituale und sonstigen Tätigkeiten, die er ausübt. Diese Notwendigkeit der Verhaltenskontrolle ist der Grund, weshalb die meisten Sekten ihren Mitgliedern ein sehr strenges Reglement vorschreiben. Eine beträchtliche Menge an Zeit wird täglich den Sektenritualen und Indoktrinationsaktivitäten gewidmet. Die Mitglieder bekommen meist auch bestimmte Ziele und Aufgaben zugewiesen, um ihre Freizeit zu beschränken und ihr Verhalten zu kontrollieren. In einer Sekte gibt es immer etwas zu tun. In manchen der strengeren Gruppen müssen sich die Anhänger so gut wie alles erst von den leitenden Mitgliedern genehmigen lassen. Zum Teil werden die Anhänger finanziell so sehr abhängig gemacht, dass ihr Entscheidungsspielraum automatisch immer enger wird. Sie müssen um Geld für den Bus oder für Kleidung bitten, müssen sich genehmigen lassen, wenn sie zum Arzt gehen oder einen Freund oder Verwandten ausserhalb der Gruppe anrufen wollen. Über jede Stunde seines Tages muss das Mitglied Rechenschaft ablegen. Auf diese Weise kann die Gruppe das Verhalten und damit die Gedanken und Gefühle ihrer Mitglieder am kurzen Zügel halten. Das Verhalten wird oft über die Forderung kontrolliert, dass man nur als Gruppe handeln soll. Individualismus wird unterdrückt. Die Befehlskette in Sekten verläuft gewöhnlich streng hierarchisch. In einer derart streng geregelten Umgebung können sämtliche Verhaltensweisen entweder belohnt oder bestraft werden. Wenn jemand gute Leistungen erbringt, wird er vor den anderen von den Vorgesetzten gelobt und manchmal belohnt. Erbringt er schlechte Leistungen, so wird er oft vor allen anderen blossgestellt und kritisiert und zu niedrigen Arbeiten verdammt. Andere Formen der Bestrafung sind "freiwilliges" Fasten, kalte Duschen, Nachtwachen oder bestimmte Bussarbeiten. Jemand, der aktiv an seiner eigenen Bestrafung partizipiert, glaubt irgendwann selbst, dass er sie verdient hat.

Gedankenkontrolle

Gedankenkontrolle  beinhaltet  eine  so gründliche Indoktrination der Mitglieder, dass diese die Dogmatik der Gruppe verinnerlichen, ein neues Sprachsystem annehmen und Gedankenstopp-Techniken anwenden. Um ein gutes Mitglied zu sein, muss der einzelne lernen, seine eigenen Gedankenprozesse zu manipulieren. Die Doktrin dient nicht nur dazu, ankommende Informationen zu filtern, sondern auch zur Steuerung des Denkens über die Information. Gewöhnlich ist die Doktrin absolutistisch und trennt alles in "Schwarz gegen Weiss", "wir gegen sie". Alles Gute ist im Sektenoberhaupt und in der Gruppe verkörpert, alles Schlechte in der Aussenwelt. Die Gruppe hat den Anspruch, alle Antworten auf alle Probleme und Situationen bereitzuhalten. Ein Anhänger braucht nicht selbst zu denken: Die Doktrin übernimmt das Denken für ihn.

Eine totalitäre Sekte hat typischerweise ihre eigene Sondersprache, also spezielle Wörter und Ausdrücke, die mit bestimmten, von der Dogmatik vorgegebenen, Begriffsinhalten besetzt ist. Man spricht hier auch von einer Manipulation der Sprache.

Ein weiteres Schlüsselelement der Gedankenkontrolle besteht darin, die Anhänger darauf zu trainieren, jegliche kritische Information über die Gruppe abzublocken. Die normalen Verteidigungsmechanismen des Individuums werden dahingehend verdreht, die neue Sektenidentität gegen die alte Identität zu verteidigen.

Die erste Verteidigungslinie beinhaltet Leugnung ("Was Sie behaupten, geschieht gar nicht"), Rationalisierung ("Das geschieht aus gutem Grund"), Rechtfertigung ("Dies geschieht, weil es geschehen soll") und Wunschdenken einer "self-fulfilling prophecy" ("ich möchte, dass es stimmt, also stimmt es vielleicht wirklich"). Die Mitglieder werden darauf gedrillt, jede Kritik für unwahr zu halten.

Die wohl geläufigste und effektivste Methode, um die Gedanken der Anhänger zu kontrollieren, sind Gedankenstopp-Rituale. Den Mitgliedern wird beigebracht, Gedankenstopp-Techniken bei sich selbst anzuwenden. Sobald ein Mitglied einen "schlechten" Gedanken verspürt, betreibt es Gedankenstopp, um die "negative Einstellung" zu ertränken und sich zu zentrieren. So lernt es, alles auszuschalten, was seine Wirklichkeit bedrohen könnte. Die diversen Gruppen verwenden unterschiedliche Gedankenstopp-Techniken: konzentriertes Beten, lautes oder leises Chanten, Meditieren, Zungenreden, Singen oder Summen. Diese Handlungen - viele von ihnen sind unter normalen Umständen durchaus sinnvoll und nützlich - werden in totalitären Sekten pervertiert. Sie werden sehr mechanisch, da der Betreffende darauf programmiert ist, sie beim leisesten Anflug von Zweifel, Sorge oder Unsicherheit sofort zu aktivieren. Gedankenstopp ist der direkteste Weg, um jemandes Fähigkeit zu umgehen, die Realität kritisch zu prüfen.

In der Tat, wenn jemand nur noch positiv über seine Zugehörigkeit zu der Gruppe denken kann, dann sitzt er mit Sicherheit fest. Da die Lehre und der Sektenführer vollkommen sind, wird jedes auftauchende Problem als die Schuld des einzelnen Mitglieds betrachtet. Der Betreffende lernt, stets sich selbst zu beschuldigen. Gedankenkontrolle kann dazu dienen, den Anhänger als gehorsamen Sklaven bei der Stange zu halten.

Gefühlskontrolle

Die Gefühlskontrolle zielt darauf ab, das Gefühlsspektrum einer Person zu manipulieren und einzuengen. Schuld und Angst sind essentielle Werkzeuge, um Menschen unter Kontrolle zu halten. Schuld dürfte wohl das wichtigste emotionale Druckmittel sein, um Konformität und Gehorsam zu erzeugen. Historische Schuld (für die USA z.B. der Abwurf der Atombombe über Hiroshima), Selbstvorwürfe (z.B. Gedanken wie "Ich werde meinem Potential nicht gerecht"), Schuldgefühle wegen vergangener Handlungen (z.B. "Ich habe bei dem Test geschummelt") und soziale Schuldgefühle (z.B. "Menschen verhungern") können alle von Sektenführern missbraucht werden.

Angst wird auf zweierlei Weise dazu benutzt, die Gruppe zusammenzuschweissen. Erstens wird ein externer Feind kreiert: das FBI, das einen ins Gefängnis steckt und umbringt; Satan, der einen mit sich in die Hölle reisst; und natürlich Deprogrammierer und kritische Sektenexperten. Zweitens ist da der Terror des Entdecktwerdens und der Bestrafung durch die Führer. Die Angst davor, was einem geschieht, wenn man seine Arbeit nicht gut macht, kann sehr stark sein. Um jemanden über seine Emotionen kontrollieren zu können, müssen bestimmte Gefühle oftmals neu definiert werden.

Glück beispielsweise ist ein Gefühl, das jeder anstrebt. In manchen Gruppen heisst Glück ganz einfach, den Weisungen des Oberhauptes zu folgen, viele neue Mitglieder zu werben oder der Gruppe eine Menge Geld einzubringen. Glück wird definiert als das Gemeinschaftsgefühl, das die Sekte dem gibt, der einen guten Status geniesst. Loyalität und Hingabe sind die am meisten geschätzten Gefühle. Die Mitglieder dürfen ausser gegenüber Aussenstehenden keine negativen Gefühle empfinden oder äussern. Ihnen wird beigebracht, niemals an sich selbst oder ihre eigenen Bedürfnisse, sondern stets an die Gruppe zu denken und sich nie zu beklagen. Sie dürfen niemals einen Führer kritisieren, immer nur sich selbst.

Viele Gruppen halten  die zwischenmenschlichen Beziehungen unter Kontrolle. Führer können Mitgliedern vorschreiben, bestimmte Mitglieder zu meiden oder ihre Zeit mit bestimmten anderen zu verbringen. Manche schreiben sogar vor, wen man heiraten darf und kontrollieren die gesamte Beziehung bis hin zum Geschlechtsleben. 

Oftmals werden die Leute gezielt in einem inneren Ungleichgewicht gehalten: In der einen Minute gelobt, in der nächsten beschimpft. Dieser Missbrauch von Techniken zur Verhaltensmodifikation lässt ein Gefühl der Abhängigkeit und Hilflosigkeit entstehen. Das Bekennen früherer Sünden oder falscher Einstellungen ist ebenfalls ein mächtiges Instrument zur Gefühlskontrolle. Natürlich wird die alte Sünde nach dem öffentlichen Bekenntnis nur selten wirklich vergessen oder vergeben. Sobald einer aus der Reihe tanzt, wird sie wieder hervorgeholt und dazu benutzt, den Betreffenden zum Gehorsam zu manipulieren. Wer sich je in einer Beichtsitzung einer Sekte wiederfindet, der sollte an folgende Warnung denken: Alles was Sie sagen, kann und wird gegen Sie verwendet werden. Dies kann bis zur Erpressung nach dem Ausstieg aus der Sekte gehen.

Die wirksamste Technik zur Gefühlskontrolle ist die Erzeugung irrationaler Ängste. Die Leute werden so konditioniert, dass sie bei dem Gedanken, die Gruppe zu verlassen, eine panische Reaktion entwickeln: Schweissausbrüche, Herzrasen, den intensiven Wunsch, die Situation zu vermeiden. Man redet ihnen ein, dass sie im Falle einer Abkehr schutzlos dem Verderben ausgeliefert wären: Wahnsinn, Tod, Drogensucht, Selbstmord. Für ein indoktriniertes Mitglied ist es praktisch unmöglich, sich vorzustellen, dass es ausserhalb der Gruppe sicher sein könnte. Wenn Sektenführer gegenüber der Öffentlichkeit betonen: "Die Mitglieder können gehen, wann immer sie wollen; die Tür ist offen", dann tun sie so, als hätten die Mitglieder ihren freien Willen und einfach gewählt zu bleiben. Doch in Wahrheit haben die Mitglieder vielleicht längst keine Wahlfreiheit mehr, weil man ihnen starke Ängste vor der Aussenwelt eingeimpft hat (Milieukontrolle).        

Diese bewusst erzeugten Ängste machen es den Menschen psychologisch unmöglich, sich für den Ausstieg zu entscheiden, nur weil sie unglücklich sind oder etwas anderes tun möchten.

Informationskontrolle

Menschen in Sekten sitzen nicht nur deshalb fest, weil man ihnen den Zugang zu kritischer Information verweigert, sondern auch, weil ihnen die richtig funktionierenden inneren Mechanismen zu ihrer Verarbeitung fehlen. Eine derartige Informationskontrolle hat verheerende Auswirkungen.

In vielen totalitären Sekten haben die Mitglieder praktisch keinen Zugang zu sektenunabhängigen Zeitungen und Zeitschriften, zu Fernsehen und Radio. Dies liegt zum Teil daran, dass sie so beschäftigt gehalten werden, dass ihnen keine freie Zeit bleibt. Und wenn sie lesen, dann hauptsächlich sekteneigene Propaganda oder Material, das zensiert wurde, um den Anhängern zu "helfen", auf die Sache konzentriert zu bleiben.

Die Informationskontrolle umfasst sämtliche Beziehungen. Die Mitglieder dürfen miteinander niemals über etwas sprechen, was den Führer, die Doktrin oder die Organisation kritisiert. Die Mitglieder müssen sich gegenseitig bespitzeln und unschickliche Äusserungen oder Aktivitäten der Führung melden. Frisch Konvertierte dürfen nicht ohne Aufsicht eines älteren Mitglieds miteinander sprechen. Insbesondere sollen die Mitglieder jeden Kontakt mit Ehemaligen oder Kritikern meiden. Manche Gruppen gehen sogar so weit, den Briefverkehr und die Telefongespräche ihrer Mitglieder zu überwachen. Die Informationen werden meist sorgfältig gestückelt, damit die Anhänger niemals ein Gesamtbild erhalten. In den grösseren Gruppen erzählt man den Leuten nur so viel, wie sie "wissen müssen", um ihren Job zu tun.

Die Sektenmitglieder denken natürlich, sie wüssten besser über die Vorgänge in der Gruppe Bescheid als Aussenstehende, doch bei der Ausstiegsberatung konnte ich oftmals feststellen, dass sie am allerwenigsten wissen.

Verhaltenskontrolle, Gedankenkontrolle, Gefühlskontrolle und Informationskontrolle - schon jede Form der Kontrolle für sich hat einen starken Einfluss auf den menschlichen Geist. Zusammen bilden sie ein totalitäres Netz, das selbst die willensstärksten Menschen manipulieren kann.

Keine einzelne Gruppe verwendet alle in diesem Abschnitt beschriebenen Methoden. Ich habe versucht, bei jeder Komponente der Bewusstseinskontrolle jeweils nur die gängigsten Praktiken zu behandeln.

Manche Sekten verwenden sicher noch andere Praktiken, die hier nicht erwähnt sind.  Manche Praktiken fallen unter mehr als eine dieser Kategorien. Zum Beispiel geben einige Gruppen ihren Mitgliedern einen neuen Namen, um die Herausbildung der neuen Sektenidentität zu beschleunigen.  Es gibt grosse Unterschiede zwischen den einzelnen Gruppen. So indoktrinieren manche ihre Mitglieder ganz offen in Richtung irrationaler Ängste, bei anderen wird das äusserst subtil gemacht.

Was zählt, ist die Gesamtwirkung auf das Individuum. Hat der Betreffende seine Lebensentscheidung wirklich noch selbst in der Hand? Dies lässt sich nur feststellen, indem man ihm Gelegenheit zum Nachdenken, freien Zugang zu allen Informationen und die Gewissheit verschafft, dass er die Umgebung jederzeit wieder verlassen kann.

Die drei Stufen zur Bewusstseinskontrolle

Oberflächlich betrachtet erscheint der dreistufige Prozess, mit dem man die Kontrolle über den Geist gewinnt, recht einfach. Ich nenne die drei Stufen Aufbrechen, Verändern und Fixieren. Dieses Dreistufenmodell wurde in den späten vierziger Jahren aus den Arbeiten des Kurt Lewin abgeleitet und findet sich bei Edgar Schein in seinem Buch Coercive Persuacion beschrieben. Er beschrieb sie so: Aufbrechen bezeichnet die völlige Destabilisierung einer Person, Verändern meint den Indoktrinationsprozess, und Fixieren bedeutet das Aufbauen und Stabilisieren einer neuen Persönlichkeit. Wir wollen dieses Dreistufenmodell näher betrachten, um zu sehen, wie es Schritt für Schritt ein gefügiges Sektenmitglied schafft.

Aufbrechen

Um jemanden auf eine radikale Veränderung vorzubereiten, muss man zunächst seine Realität erschüttern. Seine Indoktrinatoren müssen ihn desorientieren. Seine Bezugssysteme für das Verständnis der eigenen Person müssen in Frage gestellt und niedergerissen werden. Eine derartige Erschütterung der Realität entwaffnet die natürlichen Schutzmechanismen einer Person gegen Konzepte, die ihre Realität in Frage stellen.

Schlafentzug ist eine der meistverwendesten und wirksamsten Techniken, um jemanden zu destabilisieren. Auch eine Änderung der Ernährung und der Essgewohnheiten kann desorientierend wirken. Manche Gruppen benutzen eine proteinarme, zuckerreiche Nahrung oder längere Unterernährung zur Destabilisierung.

Hypnotische Prozesse sind ein weiteres mächtiges Instrument, um jemanden aufzubrechen und seine Schutzmechanismen zu umgehen. Eine besonders effektive Hypnosetechnik arbeitet mit gezielter Verwirrung zur Einleitung in einen Trancezustand. Andere hypnotische Techniken, z.B. "double binds", eine Form der paradoxen Beziehungsgestaltung, können dazu benutzt werden, den Realitätssinn einer Person zu erschüttern. Mit einem "double bind" kann man eine Person dazu zwingen, das zu tun, was der Befehlsgeber will, während man ihr gleichzeitig die Illusion einer Wahlmöglichkeit vermittelt. Übungen wie Meditation unter Anleitung, persönliche Beichte, Gebetssitzungen, energische Gymnastik oder sogar gemeinsames Singen können das Aufbrechen ebenfalls unterstützen.

Diese Aktivitäten beginnen meist ganz harmlos, werden aber im Verlauf des Workshops oder Seminars immer intensiverer und gezielter gelenkt. In diesem Stadium des "Aufbrechens", wenn die Leute allmählich weich werden, bombardieren sie die Sekten mit der Idee, sie hätten irgendeinen schlimmen Makel - sie seien unfähig, psychisch krank oder spirituell gefallen.

Jedes Problem, das für den Betreffenden relevant ist, ob es nun schlechte Leistungen in der Schule oder im Beruf, Übergewicht oder Beziehungsprobleme sind, wird aufgeblasen und aus jeder Dimension gehoben, um zu beweisen, wie total kaputt derjenige sei. Manche Gruppen können in ihren Angriffen auf einzelne sehr boshaft sein und demütigen sie vor allen anderen. Hat man jemanden gebrochen, dann kommt die nächste Phase.

Verändern

Das Verändern besteht darin, dem Individuum eine neue Identität aufzuzwingen - neue Verhaltensweisen, Denkweisen und Emotionen -, um das Vakuum zu füllen, das der Zusammenbruch der alten hinterlassen hat. Die Indoktrination in dieser neuen Identität geschieht sowohl formell (durch Seminare, Rituale) als auch informell (durch das Zusammensein mit Mitgliedern, Lesen). Viele Techniken, die in der Phase des Aufbrechens benutzt werden, kommen auch hier wieder zur Anwendung. In der Phase des Veränderns konzentriert sich diese ganze Wiederholung auf bestimmte zentrale Themen. Den Neugeworbenen wird erzählt, wie schlecht die Welt sei und dass die Nichterleuchteten keine Ahnung hätten, wie man sie in Ordnung bringen kann. Das läge daran, dass den normalen Menschen das neue "Verständnis" fehle, das der Sektenführer bringe.

Der Sektenführer sei die einzige Hoffnung auf das dauerhafte Glück. Man erzählt ihnen: "Euer 'altes' Selbst ist es, was euch daran hindert, die 'neue Wahrheit' zu erfahren. Eure 'alten Vorstellungen' stehen euch im Weg. Euer 'rationales' Denken hindert euch an einem fantastischen Fortschritt. Gebt nach. Lasst los. Habt Vertrauen." Das Verhalten wird zunächst subtil, später mit mehr Nachdruck modelliert. Das Material für die neue Identität wird allmählich, Stück für Stück, ausgeteilt, immer nur so schnell, wie der Betreffende es assimilieren kann. Die Faustregel lautet: "Immer nur so viel erzählen, wie einer annehmen kann."

Eine wirksame Technik des Veränderns ist das künstlich herbeigeführte "spirituelle Erlebnis". Dies wird oft so bewerkstelligt, dass der beste Kumpel in der Gruppe sehr intime Informationen über den Neuling sammelt und heimlich an die Sektenführung weitergibt. Später, im richtigen Moment, wird diese Information dann hervorgeholt, um ein "Erlebnis" zu erzeugen.

Der Mensch verfügt über unglaubliche Fähigkeiten, sich an neue Umgebungen anzupassen. Totalitäre Sekten verstehen es, sich diese Stärke zunutze zu machen. Kontrolle der Umgebung, Anwendung von Verhaltensmodifikation und Herbeiführung hypnotischer Trancezustände - mit diesen Mitteln kann es tatsächlich gelingen, jemandem eine neue Identität einzuprogrammieren. Hat man ihn "umprogrammiert", so ist er bereit für den nächsten Schritt.

Fixieren

Die Sektenführer müssen einigermassen sicher sein können, dass die neue Sektenidentität stark genug ist, wenn der Anhänger die unmittelbare Sektenumgebung verlässt. Also müssen die neuen Werte und Überzeugungen internalisiert werden. Die erste und wichtigste Aufgabe des "neuen" Menschen ist, sein altes Selbst zu verunglimpfen. Nichts ist schlimmer, als seinem Selbst zu gehorchen, ausser natürlich, wenn es das neue Sekten-Selbst ist, welches nach einigen Monaten voll ausgeprägt ist. Die Erinnerung des Individuums wird verzerrt: Die guten Dinge von früher werden herabgesetzt und die Sünden, Misserfolge, Kränkungen und Schuldgefühle aufgeblasen. Begabungen, Interessen, Hobbys, Freunde und Familie müssen aufgegeben werden, wenn sie mit dem Einsatz für die Sache konkurrieren.

Auch durch Beichten wird die Vergangenheit "gesäubert" und die Person noch stärker in der Gruppe verwurzelt. Um so negativer die persönliche Vergangenheit dargestellt wird, desto intensiver wird das neue Sektenmitglied beglückwünscht, den "richtigen" Weg gefunden zu haben. Das neue Mitglied wird meist sehr stark unter Druck gesetzt, seine Ersparnisse und sonstiges Vermögen der Gruppe zu übereignen. Dies erfüllt neben der Bereicherung der Sekte einen doppelten Zweck: Wer sein gesamtes Erspartes spendet, kettet sich dadurch an das neue Wertesystem; gar zu schmerzlich wäre es, sich einzugestehen, dass man einen Fehler gemacht hat. Ausserdem erscheint dadurch das finanzielle Überleben in der Welt draussen schwieriger, falls der Betreffende jemals den Austritt erwägen sollte.

Schlafentzug, Verweigerung der Privatsphäre und Umstellung der Ernährung werden bisweilen monatelang aufrechterhalten. Eine Versetzung des neuen Mitglieds in eine neue Stadt, weg von der vertrauten Umgebung und den bisherigen Einflussquellen, verstärkt die Abhängigkeit von Autoritätsfiguren in der Sekte. Das neue Mitglied wird so bald wie möglich für den Missionsdienst eingesetzt. Sozialpsychologische Untersuchungen haben gezeigt, dass nichts die eigenen Überzeugungen besser bestärkt als der Versuch, sie anderen zu verkaufen. Frischgebackene Mitglieder auf Mission zu schicken, verfestigt ihre Sektenidentität sehr schnell.

Der Weg in die Freiheit

Da ich selbst deprogrammiert wurde, bin ich mit den Nachteilen dieser Methode vertraut. Die Wahrheit ist, dass eine Deprogrammierung juristisch extrem riskant und oft emotional traumatisch ist.

Die klassische Deprogrammierung lief so ab: Das Sektenmitglied wurde aufgespürt, von der Strasse geschnappt, in ein wartendes Fahrzeug geschleudert und an einen versteckten Ort gebracht, z.B. in ein Motelzimmer. Dort wurde es rund um die Uhr von einem Sicherheitsteam bewacht, während der Deprogrammierer, ein Ehemaliger, und Familienangehörige ihm Informationen präsentierten und mit ihm stritten. Die Fenster waren vernagelt oder verbarrikadiert, denn es war schon vorgekommen, dass sich Anhänger aus dem zweiten Stock gestürzt hatten, um den sogenannten "Glaubensbrechern" zu entkommen. Manchmal begleitete man die Leute sogar auf die Toilette, um Selbstmordversuche zu verhindern. Der zu Deprogrammierende wurde tagelang, manchmal wochenlang festgehalten, bis er sich von der Bewusstseinskontrolle der Sekte löste oder, in manchen Fällen, zumindest so tat.

Bei den Deprogrammierungen, an denen ich 1976 und 1977 teilnahm, wurden die Sektenmitglieder gewöhnlich nicht von der Strasse geschnappt, sondern bei einem Besuch zu Hause konfrontiert. Trotzdem gab es fast jedesmal eine heftige Reaktion, wenn wir dem Mitglied klarmachten, dass es nicht gehen konnte. Ich habe Schläge und Tritte kassiert, heissen Kaffee ins Gesicht geschüttet bekommen, bin angespuckt und mit Kassettenrecordern beworfen worden.

Die Sektenmitglieder werden ja so programmiert: Der Gruppe "treu" bleiben, komme, was wolle. Es gibt nichts Schrecklicheres, als gefangengehalten zu werden und zu glauben, man würde als nächstes gefoltert oder sexuell missbraucht - so die Erwartungen über die Deprogrammierung, die den Sektenmitgliedern von ihren Oberhäuptern eingeimpft werden. Sie können sich vorstellen, wie schwierig eine gute Beratung in einer solchen Situation ist. Der Sektenanhänger sagt keinen Ton mehr, beginnt zu chanten, zu beten oder zu meditieren, um sich von allen äusseren Einflüssen abzuschotten. Es kann Stunden oder Tage dauern, bis der zu Deprogrammierende erkennt, dass der Sektenführer unrecht hatte. Erst dann beginnt er, sich zu öffnen.

Die von mir entwickelte zwangfreie Methode versucht, das mit Geschick zu erreichen, was die Deprogrammierung mit Gewalt tut. Familienmitglieder und Freunde müssen als Team zusammenwirken und gemeinsam ihre Strategie entwickeln, wie sie das Sektenmitglied beeinflussen können. Auch wenn diese gewaltfreie Methode nicht in jedem Fall funktioniert, wird sie von den meisten Familien vorgezogen.

Sekten locken Menschen in eine psychologische Falle. Als Ausstiegsberater habe ich daher die Aufgabe, einem Sektenanhänger vier Dinge zu verdeutlichen. Erstens demonstriere ich ihm, dass er in einer Falle sitzt - in einer Situation, in der er psychologisch lahmgelegt ist und aus der er nicht mehr herauskommt. Zweitens zeige ich ihm, dass er ursprünglich nicht vorhatte, sich in eine Falle zu begeben. Drittens weise ich darauf hin, dass andere Menschen in anderen Gruppen in ähnlichen Fallen sitzen. Und viertens sage ich ihm, dass man aus dieser Falle auch wieder herauskommen kann.

Dem Aussenstehenden mögen diese Punkte sehr offenkundig sein, doch für jemanden, der unter Bewusstseinskontrolle steht, sind sie keinesfalls unmittelbar erkennbar. Diese Botschaft mit der erforderlichen Nachhaltigkeit und Entschiedenheit zu übermitteln erfordert jemanden, der genau weiss, was es wirklich bedeutet, in einer Falle einer totalitären Sekte gefangen zu sein. Dies ist auch der Grund, warum ehemalige Sektenmitglieder, vor allem ehemalige leitende Mitglieder, die besten Ausstiegsberater abgeben.

In meiner Arbeit mit Sektenanhängern versuche ich niemals, ihnen die Gruppe oder sie der Gruppe wegzunehmen. Denn dadurch würden sie sich nur bedroht fühlen, und das mit Recht. Statt dessen versuche ich, ihnen zu persönlichem Wachstum zu verhelfen, indem ich ihnen verschiedene Perspektiven und Möglichkeiten anbiete.

Ich helfe den Leuten, Wahlmöglichkeiten für sie zu entdecken, von deren Existenz sie nichts wussten, und ermuntere sie dann, das zu tun, wovon sie denken, dass es das Beste für sie ist. Ich tue mein möglichstes, um ihnen die Gewissheit zu geben, dass sie die Kontrolle über alles haben.  


                                          
Steven Hassan, Ex-Munie, arbeitet heute in verschiedenen amerikanischen Selbsthilfe-Netzwerken von Sektenopfern. Der in den USA renommierte Ausstiegsberater vermittelt in seinem lesenswerten Buch "Ausbruch aus dem Bann der Sekten" seine langjährige Erfahrung zum Thema Sekten.

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