mit der freundlichen Genehmigung zur
Veröffentlichung von Hugo Stamm
1. AnwerbungSo paradox es klingen mag:
Obwohl die Sektenmitglieder durchaus
glaubwürdig erscheinen und den Anschein erwecken, die Angeworbenen
geistig und seelisch befreien zu wollen, ist bereits das erste
Gespräch ein Angriff auf die Gedanken- und Gefühlswelt. Denn
die Angeworbenen werden mit dem Ziel umgarnt, sie in die Gruppe zu
locken. In der ersten Stufe scheuen sich die Kultmitglieder nicht,
notfalls aus taktischen Überlegungen heraus, die eigene
Heilstheorie zu verleugnen. Sie unternehmen alles, um vom Verdacht der
Indoktrination abzulenken und eine Vertrauensbasis aufzubauen. Die
durch die öffentliche Kritik an den Gruppen hervorgerufenen
Ängste vieler Leute werden teilweise mit fingierten, nicht
nachprüfbaren Gegeninformationen zerstreut.
Die Gruppen mit vereinnahmenden
Tendenzen wirken in der ersten Phase
durch ihre antrainierte kollektive Glückseligkeit
verführerisch. Sie erwecken bei den Novizen oder neuen
Anhängern den Eindruck einer grossen, glücklichen
Gemeinschaft, die verspricht, die Urbedürfnisse nach der
verlorenen Geborgenheit befriedigen zu können. Die Gruppen
suggerieren, die ideale Gesellschaft zu verkörpern. Aussenstehende
sind oft hingerissen von der scheinbar perfekten Harmonie. Alle
Mitglieder wirken beseelt von der überwältigenden Idee, das
Heil zum Wohl der Menschheit im Auftrag einer höheren Macht
umzusetzen. Die Umworbenen erleben eine Glaubensgemeinschaft ohne
Widersprüche und Konflikte, vereinigt durch die hohen ethischen
und religiösen Ziele.
2. Einführung in die HeilslehreHaben sich die Angeworbenen in
der ersten Phase von den
Heilsversprechungen ködern lassen und ist ihre Sehnsucht geweckt,
werden sie in der zweiten Phase in die Grundzüge der Heilslehre
eingeführt. Dabei verfolgen die vereinnahmenden Gruppen das Ziel,
die Novizen sachte in das Labyrinth der Ideologie zu führen und
sie mental an den Kult zu binden. Sie müssen sich intensiv mit den
Lehrinhalten auseinandersetzen und sich in die Denkkategorien der
Gruppe vertiefen. Oft verschlingen sie die ersten Schriften in
fiebriger Erwartung und getrieben von der Hoffnung, darin auf den Kern
zur versprochenen "Wahrheit" zu stossen. Ihre Sehnsucht wird
konkretisiert und gleichzeitig erhöht.
Die Gruppen lassen ihren neuen
Anhängern in dieser Phase keinen
Raum, sich kritisch mit der portionsweise verabreichten Heilslehre
auseinanderzusetzen. Sie werden stark eingebunden, zeitlich
überlastet und geradezu mit Zuwendungen und Komplimenten
überschüttet. Die Überbetonung der Gefühlsebene
gehört zur Strategie der Sekten: Die emotionale Verwirrung
überlagert das kritische Bewusstsein und raubt den neuen
Anhängern in der entscheidenden Phase die Möglichkeit, die
realitätsfremde Sektenideologie und die übertriebenen
Heilsversprechen zu hinterfragen.
3. Einbindung in die GruppeStossen die Gruppen bei der
Einführung in die Heilslehre auf wenig
Widerstand, werden die neuen Anhänger oft schon nach wenigen
Wochen oder Monaten mit der Idee konfrontiert, die bisherigen
Lebenswurzeln abzuschneiden und im Schoss der Gemeinschaft ein neues
Leben zu beginnen. Die 3. Stufe ist wohl der heikelste Schritt in der
Indoktrination. Nun kommt die Stunde der Wahrheit, weil der
Sektenalltag mit den schönfärberischen Heilsversprechungen
kontrastiert. Die Missionstätigkeit, die Arbeit im Zentrum, die
Geldbeschaffung und selbst die Rituale sind meist Knochenarbeit. Bei
der Einführung in die Gruppe ist die Schonzeit also definitiv
vorbei.
4. Entfremdung von der Umwelt und IsolationDie Isolation verfolgt den
Zweck, die Mitglieder von sämtlichen
unerwünschten Einflüssen der Aussenwelt abzuschirmen und sie
uneingeschränkt für die Ziele des Kultes verfügbar zu
machen. In erster Linie wollen die Gruppen die neuen Mitglieder von
ihren Angehörigen und Freunden isolieren, da von engen
Bezugspersonen die grösste Gefahr der Gegenbeeinflussung ausgeht.
In dieser Phase werten die Gruppen vor allem die bisherigen
Lebenserfahrungen ihren Anhängern ab. Das einfachste und
unverdächtigste Mittel der Isolation ist eine starke
Arbeitsbelastung. Die Anhänger werden angetrieben mitzuhelfen, die
hohen "Ideale" und Missionsziele so rasch als möglich umzusetzen.
Die Ideologie wird zum Mittel der Indoktrination: Die Anhänger
müssen sich quasi das Weltgewissen auf ihre schmalen Schultern
laden und die Verantwortung für die Entwicklung der Menschheit
übernehmen. Deshalb ordnen sie freiwillig alle Bedürfnisse
diesem globalen Ziel unter und setzen sich mit Eifer für die
Gruppe ein. Ihr Leben dreht sich nur noch um das Studium der
Heilslehre, die Rituale und die Arbeit für die Gruppe.
5. Festigung der HeilslehreIn der Phase 5 der
Indoktrination geht es darum, die
Abhängigkeitsmechanismen zu verfeinern, die Bewusstseinskontrolle
zu vervollständigen und die Sektenidentität zu
verstärken. Die endlose Wiederholung der Rituale und die
permanente Unterordnung sollen verhindern, dass sich die
ursprüngliche Identität wieder in die Seele einzunisten
beginnt. Denn die jahrelange Überforderung in den Gruppen laugt
die Anhänger allmählich aus, und der wachsende Widerspruch
zwischen den angestrebten Zielen und den Resultaten nährt die
Zweifel. Ausserdem weckt die Abstumpfung zwangsläufig das
Bedürfnis nach Erholung. Den Führungsfiguren entgeht nicht,
dass gerade die erfahrenen Anhänger und der Kader solchen
Prozessen ausgesetzt sind. Die Kultgründer sind deshalb von der
Angst getrieben, ihre Kaderleute könnten eines Tages die
Scheinwelt durchschauen, ihnen die Maske vom Gesicht reissen und eine
Palastrevolution auslösen.
Das einzige Rezept dagegen ist die permanente Indoktrination aller Mitglieder. Dabei übersehen sie gern, dass sie den Bogen überspannen und bei vielen Anhängern einen Psychostress bewirken. Labile Personen entwickeln in dieser Situation gar psychische Auffälligkeiten oder psychosomatische Krankheiten. Copyright © für den Text bei Hugo Stamm, HTML von Ilse Hruby Hugo Stamm, geb. 1949, ist seit 1975 Redakteur beim Zürcher "Tages Anzeiger". Als Sektenspezialist ist Stamm ein in Deutschland und der Schweiz gefragter Interviewpartner. Stamm hält viele Vorträge und schreibt Bücher. Hugo Stamm: denken im wandel - esoterikboom & sinnsuche |