Die fünf Phasen der Indoktrination


mit der freundlichen Genehmigung zur Veröffentlichung von Hugo Stamm


1. Anwerbung

So paradox es klingen mag: Obwohl die Sektenmitglieder durchaus glaubwürdig erscheinen und den Anschein erwecken, die Angeworbenen geistig und seelisch befreien zu wollen, ist bereits das erste Gespräch ein Angriff auf die Gedanken- und Gefühlswelt. Denn die Angeworbenen werden mit dem Ziel umgarnt, sie in die Gruppe zu locken. In der ersten Stufe scheuen sich die Kultmitglieder nicht, notfalls aus taktischen Überlegungen heraus, die eigene Heilstheorie zu verleugnen. Sie unternehmen alles, um vom Verdacht der Indoktrination abzulenken und eine Vertrauensbasis aufzubauen. Die durch die öffentliche Kritik an den Gruppen hervorgerufenen Ängste vieler Leute werden teilweise mit fingierten, nicht nachprüfbaren Gegeninformationen zerstreut.

Die Gruppen mit vereinnahmenden Tendenzen wirken in der ersten Phase durch ihre antrainierte kollektive Glückseligkeit verführerisch. Sie erwecken bei den Novizen oder neuen Anhängern den Eindruck einer grossen, glücklichen Gemeinschaft, die verspricht, die Urbedürfnisse nach der verlorenen Geborgenheit befriedigen zu können. Die Gruppen suggerieren, die ideale Gesellschaft zu verkörpern. Aussenstehende sind oft hingerissen von der scheinbar perfekten Harmonie. Alle Mitglieder wirken beseelt von der überwältigenden Idee, das Heil zum Wohl der Menschheit im Auftrag einer höheren Macht umzusetzen. Die Umworbenen erleben eine Glaubensgemeinschaft ohne Widersprüche und Konflikte, vereinigt durch die hohen ethischen und religiösen Ziele.

2. Einführung in die Heilslehre

Haben sich die Angeworbenen in der ersten Phase von den Heilsversprechungen ködern lassen und ist ihre Sehnsucht geweckt, werden sie in der zweiten Phase in die Grundzüge der Heilslehre eingeführt. Dabei verfolgen die vereinnahmenden Gruppen das Ziel, die Novizen sachte in das Labyrinth der Ideologie zu führen und sie mental an den Kult zu binden. Sie müssen sich intensiv mit den Lehrinhalten auseinandersetzen und sich in die Denkkategorien der Gruppe vertiefen. Oft verschlingen sie die ersten Schriften in fiebriger Erwartung und getrieben von der Hoffnung, darin auf den Kern zur versprochenen "Wahrheit" zu stossen. Ihre Sehnsucht wird konkretisiert und gleichzeitig erhöht.

Die Gruppen lassen ihren neuen Anhängern in dieser Phase keinen Raum, sich kritisch mit der portionsweise verabreichten Heilslehre auseinanderzusetzen. Sie werden stark eingebunden, zeitlich überlastet und geradezu mit Zuwendungen und Komplimenten überschüttet. Die Überbetonung der Gefühlsebene gehört zur Strategie der Sekten: Die emotionale Verwirrung überlagert das kritische Bewusstsein und raubt den neuen Anhängern in der entscheidenden Phase die Möglichkeit, die realitätsfremde Sektenideologie und die übertriebenen Heilsversprechen zu hinterfragen.

3. Einbindung in die Gruppe

Stossen die Gruppen bei der Einführung in die Heilslehre auf wenig Widerstand, werden die neuen Anhänger oft schon nach wenigen Wochen oder Monaten mit der Idee konfrontiert, die bisherigen Lebenswurzeln abzuschneiden und im Schoss der Gemeinschaft ein neues Leben zu beginnen. Die 3. Stufe ist wohl der heikelste Schritt in der Indoktrination. Nun kommt die Stunde der Wahrheit, weil der Sektenalltag mit den schönfärberischen Heilsversprechungen kontrastiert. Die Missionstätigkeit, die Arbeit im Zentrum, die Geldbeschaffung und selbst die Rituale sind meist Knochenarbeit. Bei der Einführung in die Gruppe ist die Schonzeit also definitiv vorbei.

4. Entfremdung von der Umwelt und Isolation

Die Isolation verfolgt den Zweck, die Mitglieder von sämtlichen unerwünschten Einflüssen der Aussenwelt abzuschirmen und sie uneingeschränkt für die Ziele des Kultes verfügbar zu machen. In erster Linie wollen die Gruppen die neuen Mitglieder von ihren Angehörigen und Freunden isolieren, da von engen Bezugspersonen die grösste Gefahr der Gegenbeeinflussung ausgeht. In dieser Phase werten die Gruppen vor allem die bisherigen Lebenserfahrungen ihren Anhängern ab. Das einfachste und unverdächtigste Mittel der Isolation ist eine starke Arbeitsbelastung. Die Anhänger werden angetrieben mitzuhelfen, die hohen "Ideale" und Missionsziele so rasch als möglich umzusetzen. Die Ideologie wird zum Mittel der Indoktrination: Die Anhänger müssen sich quasi das Weltgewissen auf ihre schmalen Schultern laden und die Verantwortung für die Entwicklung der Menschheit übernehmen. Deshalb ordnen sie freiwillig alle Bedürfnisse diesem globalen Ziel unter und setzen sich mit Eifer für die Gruppe ein. Ihr Leben dreht sich nur noch um das Studium der Heilslehre, die Rituale und die Arbeit für die Gruppe.

5. Festigung der Heilslehre

In der Phase 5 der Indoktrination geht es darum, die Abhängigkeitsmechanismen zu verfeinern, die Bewusstseinskontrolle zu vervollständigen und die Sektenidentität zu verstärken. Die endlose Wiederholung der Rituale und die permanente Unterordnung sollen verhindern, dass sich die ursprüngliche Identität wieder in die Seele einzunisten beginnt. Denn die jahrelange Überforderung in den Gruppen laugt die Anhänger allmählich aus, und der wachsende Widerspruch zwischen den angestrebten Zielen und den Resultaten nährt die Zweifel. Ausserdem weckt die Abstumpfung zwangsläufig das Bedürfnis nach Erholung. Den Führungsfiguren entgeht nicht, dass gerade die erfahrenen Anhänger und der Kader solchen Prozessen ausgesetzt sind. Die Kultgründer sind deshalb von der Angst getrieben, ihre Kaderleute könnten eines Tages die Scheinwelt durchschauen, ihnen die Maske vom Gesicht reissen und eine Palastrevolution auslösen.

Das einzige Rezept dagegen ist die permanente Indoktrination aller Mitglieder. Dabei übersehen sie gern, dass sie den Bogen überspannen und bei vielen Anhängern einen Psychostress bewirken.

Labile Personen entwickeln in dieser Situation gar psychische Auffälligkeiten oder psychosomatische Krankheiten.



Copyright © für den Text bei Hugo Stamm, HTML von Ilse Hruby

Hugo Stamm, geb. 1949, ist seit 1975 Redakteur beim Zürcher "Tages Anzeiger". Als Sektenspezialist ist Stamm ein in Deutschland und der Schweiz gefragter Interviewpartner. Stamm hält viele Vorträge und schreibt Bücher.

Hugo Stamm: denken im wandel - esoterikboom & sinnsuche
                                                                                 

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