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Aufwachsen in einer Sekte

- zur Situation von Kindern und Jugendlichen

Dr. habil. Hansjörg Hemminger
Stuttgart
Manuskript zur Internationalen Fachtagung:
"Sekten" - von der Prävention zur Intervention
Wien, 13. bis 14.9. 1999

 
 

1. Zur Einleitung

In einem städtischen Wohnheim für Alleinerziehende lebt eine Mutter mit einem achtjährigen Kind, die sich einer christlichen Extremgruppe charismatischer (neopentecostaler) Prägung anschließt. Der betreuenden Sozialpädagogin, die zu Anfang nichts über diese Gruppe weiß, fällt folgendes auf:

Die Mutter, die sich vorher in der Erziehung hektisch, unsicher und inkonsequent verhielt, macht jetzt einen ruhigeren Eindruck. Das Kind wird viel besser versorgt, was Nahrung, Kleidung, Aufsicht etc. angeht. Nach einigen Monaten engagiert die Mutter sich in ihrer neuen Gemeinde sogar bei der Kinderbetreuung während des Gottesdiensts und zeigt viel mehr Verantwortungsbewußtsein als früher. Allerdings versucht sie auch, andere Mütter aus dem Wohnheim mit emotionalem Druck und durch das Wecken religiöser Ängste anzuwerben. Als das nicht gelingt, bietet sie eine Gebetsgruppe im Wohnheim an, an der schließlich ca. acht Mütter mit ihren Kindern teilnehmen. Dabei wird in der Bibel gelesen, das Gelesene besprochen und gebetet. Das Gebet richtet sich auf Alltagssorgen, auch für die Kinder und ihr Verhalten wird gebetet. Am Schluß geht das Gebet häufig in Zungengesang (Glossolalie) über, die Kinder sind bei all dem meist anwesend, beteiligen sich aber nicht.

Die Sozialpädagogin ist unsicher, wie sie sich zu der neuen Entwicklung stellen soll. Auf der einen Seite wird das Kind ordentlicher versorgt als früher. Auf der anderen Seite erklärt die Mutter jetzt jedes störende Verhalten ihres Kinds, sogar wenn es nachts aufwacht und Angst hat, mit dämonischen Einwirkungen, die durch Gebet und Strenge abgewehrt werden müssen. Auch wenn es unfolgsam ist oder widerspricht, steht es aus ihrer Sicht unter dem Einfluß Satans. Die Sozialpädagogin vermutet, daß eine Erziehung, die als Kampf gegen den allgegenwärtigen Satan gedeutet wird, negative seelische Folgen beim Kind haben könnte. Die aggressive und triumphalistische religiöse Sprache erscheint ihr äußerst unangemessen, wenn es um die Beziehung zum eigenen Kind geht. Ihr Versuch, die Mutter auf die natürlichen Bedürfnisse eines Kindes anzusprechen, bewirkt nichts. Selbst der Vorwurf, es ginge ihr beim "Kampf gegen Satan" gar nicht so sehr um das Kind, sondern um ein religiöses Ausagieren, wird von der Mutter ohne Betroffenheit weggesteckt. Die Sozialpädagogin vermutet, daß sämtliche Einwirkungsversuche ihrerseits von der Gemeinschaft als weltliche Blindheit oder als Unglaube eingestuft werden, obwohl die Mutter das ihr gegenüber nicht offen sagt. Schließlich nehmen die Spannungen im Wohnheim so sehr zu, daß Mutter und Kind, mit Unterstützung ihrer Gemeinde, aus der Einrichtung ausziehen.

Der achtjährige Junge wird künftig in einer Gemeinschaft aufwachsen, die Außenstehende als Sekte bezeichnen. Auch wenn sie aus theologischer und religionswissenschaftlicher Sicht nicht alle Kriterien dafür erfüllt, sind viele soziologische Kriterien vorhanden: Radikalität, starke Abgrenzung zur Umwelt, großes Sendungsbewußtsein, beherrschende Feindbilder usw.[1] Wie wird sich dieser Umstand auf seine Entwicklung auswirken? Daß ein wichtiger, vielleicht sogar schicksalhafter, Einfluß vorhanden sein wird, läßt sich vermuten. Denn die Erziehungsideen und -methoden der Mutter werden jetzt von der Theologie der Gruppe geprägt - eine radikale Wende im Vergleich zur bisherigen Sozialisation des Kindes. Und nicht nur das: Die Gemeinschaft hat für die Mutter einen hohen Stellenwert; der Junge wird künftig in ihr viel Zeit verbringen, entscheidende Erfahrungen in ihr machen und ihren sozialen Formungsprozessen ausgesetzt sein. Dabei lassen sich bereits zu Anfang selbst von der "sektenkundlich" unerfahrenen Betreuerin negative und positive Aspekte erkennen. Wir haben es jedenfalls mit einer aus der Sicht des Kindeswohls ambivalenten Entwicklung zu tun. Das ist häufig - wenn auch keineswegs immer - der Fall, und die Analyse dieser Ambivalenz wird uns noch zu beschäftigen haben.

Ich halte es für wichtig, die Betrachtung des Themas "Kindheit und Jugend in einer Sekte" mit einer nicht eindeutig positiven oder negativen Erfahrung zu beginnen, denn bei einem emotional so hoch besetzten Thema kommt es oft zu schrecklichen Vereinfachungen. Auf der einen Seite sind da die übereifrigen Helfer, die bereits nach staatlichen Eingriffen rufen, wenn Mädchen in langen Röcken statt in Shorts Sport treiben müssen. Da sind Konflikte um die Schulpflicht, um die Evolutionstheorie im Biologie-Unterricht usw., die dazu führen, daß Lehrer und Behörden eine Familie der Zeugen Jehovas oder eine Guru-Gruppe von ihrer häßlichsten Seite erleben. Sie ziehen aus ihren Negativerfahrungen Rückschlüsse auf das Befinden der Kinder - aber sind diese Schlüsse immer zutreffend? Da gibt es aber auf der anderen Seite die rücksichtslose Ausbeutung von Kindern zugunsten einer Ideologie, die blind ist gegenüber ihren natürlichen Bedürfnissen. Es gibt den religiös gerechtfertigten Mißbrauch, es gibt unglaubliche Fälle von Gleichgültigkeit und Vernachlässigung. Umso notwendiger ist eine differenzierte Aufschlüsselung der Effekte, die das "Aufwachsen in einer Sekte" für Kinder und Jugendliche haben kann.

Aber führt uns das obige Beispiel wirklich zu diesem Thema?" Denn offensichtlich lassen sich Erziehungsideen- und methoden der betreffenden protestantisch-fundamentalistischen Gemeinschaft nicht auf andere Gruppen außerhalb des christlichen Spektrums übertragen. Es fallen zwar Ähnlichkeiten mit dem Erziehungsstil bei Jehovas Zeugen auf. Aber in beiden christlich geprägten Gruppen bzw. Bewegungen hat immerhin Erziehung und Kinderbetreuung einen hohen Stellenwert, die Familie ist wichtig. Bei Gemeinschaften wie ISKCON, in denen ein zölibatäres und asketisches Ideal herrscht (oder herrschte), kam die Erziehung als Lebensaufgabe zeitweise kaum in den Blick. Einer Gruppe wie Scientology, die von einem individuellen Leistungsdenken geprägt wird, kommt sogar die Vorstellung davon abhanden, was Erziehung eigentlich ist. Auch was beim Verein zur Förderung der Psychologischen Menschenkenntnis (VPM), bei Ananda Marga, beim Universellen Leben und bei Sant Thakar Singh mit Kindern und Jugendlichen geschieht, läßt sich damit nicht vergleichen. Oder doch?
 

2. Sozialisation in einer geschlossenen religiös-weltanschaulichen Gemeinschaft

Die von unterschiedlichen religiösen und ideologischen Gemeinschaften vertretenen Erziehungsziele und -methoden lassen sich inhaltlich kaum verallgemeinern, man findet viel mehr Differenzen als Ähnlichkeiten. In drei Anhörungen der Enquete-Kommission des Deutschen Bundestags zeigte sich, daß es "eine große Bandbreite von Verhalten bzw. erzieherischer Einflußnahmen gegenüber Kindern gibt." Die problematischen Maßnahmen reichten "von subtilen Methoden der Angsterzeugung bis zu offenen Formen physischer Gewalt. Allgemeine Strukturmerkmale zu Erziehungskompetenzen ließen sich jedoch nicht ableiten."[2]

Allerdings weisen die Lebensorientierungen von Gruppen, die ein soziologisches Sektenkriterien erfüllen, jenseits der unterschiedlichen Glaubenssysteme und -praktiken einige Gemeinsamkeiten in der Beziehungsgestaltung nach innen und außen auf. Zumindest diese lassen sich in ihren möglichen positiven und negativen Auswirkungen auf Kinder und Jugendliche verallgemeinernd beschreiben. Das folgende Schema stützt sich auf die Darstellung konfliktträchtiger Merkmale religiös-weltanschaulicher Gemeinschaften aus dem Zwischenbericht der bereits genannten Enquete-Kommission.[3] Die viel ausführlichere Darstellung im Endbericht: "Kinder und Jugendliche in neuen religiösen und ideologischen Gemeinschaften und Psychogruppen" [4] ist zu komplex angelegt, um für ein kurzes Referat tauglich zu sein - sie sei aber ausdrücklich zu diesem Thema empfohlen. Weiterhin sind die einschlägige Publikation des Jugendpsychiaters Klosinski (Tübingen), des früheren Frankfurter Sektenbeauftragten Eimuth sowie der Erzdiözese Wien ausdrücklich zu erwähnen. [5] Wie wirken sich "Sektenmerkmale" auf Kinder und Jugendliche aus?

Die Simplifizierung von Ideen und Verhältnissen, die Überwertigkeit der eigenen Ideen, Ideologisierung und Totalisierung des Denkens, die Abwertung anderer Ansichten bis hin zur Desinformation nach innen und außen (Es handelt sich hier und beim nächsten Punkt um material-instruierende Erziehungsfaktoren.) führen zu

den möglichen Gefahren einer verzerrten oder reduzierten Wahrnehmung bei den Eltern, die untaugliche und schädliche Erziehungsmaßnahmen bewirken kann. Für die Kinder droht Wirklichkeitsverlust durch schwer verarbeitbare Ideen oder durch eine zu weitgehende Komplexitätsreduktion. Die Eltern verlieren ihre Offenheit für neue Ideen und damit an Gesprächsfähigkeit mit der Jugend, exploratives und kreatives Denkens bei den Kindern wird abgelehnt (Denkverbot). Je nach dem Glaubenssystem kann Gleichgültigkeit und im Extrem eine Verweigerungshaltung der Erwachsenen gegenüber den Aufgaben von Kinderbetreuung und Erziehung insgesamt die Folge sein. Das extremste Beispiel für eine untaugliche, ideolgiegeleitete "Erziehung" liefert sicherlich die Scientology-Organisation, für die "die Studiertechnologie von L.Ron Hubbard" die einzige funktionierende Lerntechnik darstellt, in der Kinder bereits auditiert werden sollen, sobald sie sprechen können, und in der Kinder einem "security check" unterzogen werden, der Verhörcharakter besitzt und keinerlei Respekt vor der kindlichen Gedanken- und Beziehungswelt zeigt. [6] Ein anderes Beispiel (VPM) wird in Kapitel 3 zur Sprache kommen.

den möglichen Vorteilen, die eine übersichtlich geordnete Ideen- und Lebenswelt für die Kinder bietet. Je nach Lehre entstehen verläßliche Beziehungen für die Kinder und Handlungssicherheit bei den Eltern. In vielen Fällen stellt man eine Moralisierung des Verhaltens bei Eltern und Kindern mit hoher Änderungs- und Korrekturbereitschaft im Rahmen des dominierenden Glaubenssystems fest. Beispiele dafür finden sich in den Falldarstellungen aus fundamentalistischen und aus randkirchlichen Gemeinschaften, die im Rahmen eines sozialwissenschaftlichen Forschungsprojekts von der Enquete-Kommission erhoben wurden.[7]

Magisches Denken , bzw. eine pseudo-technische Struktur des Denkens, die das absolut wirkmächtige Wissen exklusiv der eigenen Gruppe zuschreibt und entsprechend absolut gültige Problemlösungen liefert, führt zu

den möglichen Gefahren einer unbegründeten Handlungszuversicht bei den Eltern, zu Scheinlösungen in der Erziehung, zu massiven Fehlern im Gesundheits- und Versorgungsbereich was Ernährung, geistige und seelische Förderung usw. angeht. Ein durch die Presse bekannt gewordenes Beispiel (das viele Parallelen zu anderen Fällen aufweist) ist der Tod eines deutschen Mädchens in einer südfranzösischen Kommune der "Northwestern Kingdom Communities" oder "Thabita’s Place", weil die Mutter das stoffwechselkranke Kind nicht medizinisch behandeln ließ, sondern auf Gebetsheilung vertraute. Die Mutter wurde wegen fahrlässiger Tötung verhaftet. Auf der anderen Seite ist aus einem umfangreichen Verfahren in den USA betreffend derselben Gruppe gutachterlich bekannt, daß die Kinder dieser Gemeinschaft zwar mit körperlicher Gewalt erzogen würden und vom freien Spiel zugunsten produktiver Arbeit abgehalten würden, aber trotzdem körperlich und seelisch gesund wirkten. Das "magische" Denken wirkte sich also nur durch einen zweiten Umstand, nämlich die die chronische Krankheit des Kindes, derart schrecklich aus.

möglichen Vorteilen, die für mich nicht zu erkennen sind.

Die Geschlossenheit der Gruppe, die damit verbundene starke Milieukontrolle, hoher Konformitätsdruck nach innen, Feindbilder und eine Schwarz-Weiß-Sicht der Außenwelt, das exklusive Sendungsbewußtsein und der ausgeprägte Gruppenegoismus (Es handelt sich hier und beim nächsten Punkt um formal konditionierende Erziehungsfaktoren.) führen zu

den möglichen Gefahren eines außengeleiteten und damit nicht beziehungsgerechten Handelns bei den Eltern, zum Beispiel zu einer krass prinzipienorientierten Erziehung, zu einer geringen Fähigkeit zur Wahrnehmung individueller Bedürfnisse des Kindes. Beim Kind droht die Ausbildung einer zur Gruppe hin abgrenzungsschwachen, zur Außenwelt hin wenig beziehungsfähigen Persönlichkeit, in der Schulzeit droht eine soziale Außenseiterrolle unter Gleichaltrigen und später, in der Jugend, eine sehr schwierige Ablösung von Eltern, Familie und Gruppe. Das geradezu klassische Beispiel für letzteres bieten Jehovas Zeugen, bei denen schwere Pubertätskonflikte fast alltäglich sind. Ich selbst weiß z.B. von einem Fall, in dem ein gegen die moralischen Normen der Zeugen rebellierendes Mädchen bereits mit 15 Jahren schwanger wurde. Sie wurde mit dem ebenfalls minderjährigen Kindesvater verheiratet, um einen "Skandal" zu verhindern, die Ehe der beiden unreifen Jugendlichen scheiterte vorhersehbar. Die junge Frau hat nun mit 19 Jahren bereits zwei weitere Kinder von verschiedenen Vätern, wurde aus der Versammlung der Zeugen und ihrer Familie ausgestoßen und lebt von Sozialhilfe, da sie trotz gut durchschnittlicher Fähigkeiten keinen Beruf erlernt hat. Die Verwahrlosung ihrer eigenen drei Kinder ist - trotz einiger Bemühungen der Jugendhilfe - eine reale Gefahr. Hier, wie oft, muß das staatliche Sozial- und Gesundheitswesen auf Kosten der Allgemeinheit Konflikte bearbeiten, die eine geschlossene Gemeinschaft nicht erträgt und deshalb in die Außenwelt verlegt.

den möglichen Vorteilen einer festen moralische Position der Familie, teilweise zu einem hohen Stellenwert von Familie und Erziehung und zu entsprechendem Verantwortungsbewußtsein der Erwachsenen. Die Abwehr negativer gesellschaftlicher Einflüsse gelingt von daher leichter. Manchmal fällt bei den Kindern und Jugendlichen ein hoher Stellenwert des Gemeinwohls und der Interessen anderer auf, eine gute Gruppenfähigkeit und eine überdurchschnittliche soziale Kompetenz sind möglich. Zum Beispiel beanspruchen die Mormonen in ihren eigenen Schriften, daß Kinder trotz strenger moralischer Normen in ihren Familien behüteter aufwachsen als im Durchschnitt der Gesellschaft. Dieser Anspruch besteht teilweise zu Recht, zum Beispiel was Suchtgefahren angeht und was das seelische Trauma von Elternscheidungen betrifft. Ich selbst konnte bei den sogenannten "Norwegern" (Smith’s Freunden) bei aller Problematik ihrer religiösen Erziehung immerhin eine hohe soziale Kompetenz der (in dieser Gruppe sehr zahlreichen) Kinder feststellen. Jedenfalls sollte eine Betrachtung der "Sektenrisiken" immer im Blick behalten, daß auch die liberale moderne Gesellschaft Entwicklungsrisiken zuhauf birgt, und daß einige Gemeinschaften diese Risiken senken, sogar indem sie gegenteilige Risiken erhöhen.

Totalitäre Machtverhältnisse und Personenkult in der Gruppe führen zu

den möglichen Gefahren, die mit regressiven Verhaltens- und Erlebnisformen bei Eltern und Kindern verbunden sind: z.B. Identitätsschwäche gegenüber der Gemeinschaft und die Anlehnung in der Erziehung an eine unkritisierbare Autorität bis hin zur Hörigkeit dem "Guru" gegenüber. Immer wieder findet man Fremdbestimmung in der Erziehung, damit verbunden die Schwächung der Eltern-Autorität und eine entsprechende Verunsicherung der Kinder. Ein Beispiel dafür bietet der "Verein zur Förderung der Psychologischen Menschenkenntnis" (VPM) aufgrund seiner familienfeindlichen Ideologie, die prinzipiell in Frage stellt, daß die leiblichen Eltern ihre Kinder gut erziehen könnten, und die Fremdbetreuern größere Kompetenz zuschreibt. In dieser Gruppe kam es vor, daß "erfahrene Therapeuten" zur Fremdbetreuung von Kindern und Jugendlichen rieten oder sogar junge Paare ganz davon abhielten, Kinder zu bekommen. [8] Ein viel schlimmeres Beispiel muß man leider hier in Wien nicht weit entfernt suchen. Ich spreche von den Schäden, die innerhalb der Aktionsanalytischen Aktion angerichtet wurden, weil Eltern dem "Kommunen-Häuptling" Otto Mühl derart hörig waren, daß sie ihm sogar ihre Kinder für seine abseitigen Sexbedürfnisse zur Verfügung stellten.

möglichen Vorteilen, die für mich nicht zu erkennen sind.

Das Leistungsprinzip, nach dem Wert und Geltung einer Person von der Leistung für die Gruppe und deren Ziele abhängen, und nach der persönliche Interessen und Bedürfnisse zu opfern sind, führt zu

den möglichen Gefahren einer zeitlichen und emotionalen Vernachlässigung von Kindern durch die Betreuungs- und Bezugspersonen, zur Vernachlässigung von Entwicklungsbedürfnissen, die nicht für wichtig gehalten werden. Es kommt zur zeitlichen, körperlichen und seelischen Überlastung, unter Umständen bei den Kindern zu einem fragilen, auf unmittelbare Bestätigung hin orientierten Selbstwertgefühl usw. Hier bietet leider die Hare-Krishna-Bewegung (ISKCON) bei aller gegenwärtigen Bemühungen um Besserung mindestens in ihrer jüngsten Vergangenheit ein schlimmes Beispiel. Erst allmählich wird bekannt, welches große Ausmaß der sexuelle Mißbrauch von Kindern in manchen Gurukulas, den Schulen der Bewegung, tatsächlich hatte, und wie gleichgültig die Führung der Bewegung dem Problem lange Zeit begegnete. Der Fall ist besonders deshalb hervorzuheben, weil der Mißbrauch (im Unterschied zur AAO) keine ideologische oder religiöse Begründung hatte. Er entstand allem Anschein nach ausschließlich durch Gleichgültigkeit gegenüber den Bedürfnissen von Kindern und dadurch, daß man die Kinder unqualifizierten, unreifen Personen überließ, die anderswo in der leistungs- und gewinnorientierten Gruppe nicht zu gebrauchen waren. Mit anderen Worten: Es handelt sich um religiös legitimierte, massive Verantwortungslosigkeit bei Eltern und Führung, an sich nicht um eine abseitige Sexualmoral.

den möglichen Vorteilen, die eine hohe Leistungsbereitschaft bei Eltern und Kindern hat. Eine bessere Frustrationstoleranz bei den Kindern als im Durchschnitt der Bevölkerung ist möglich, Kinder und Jugendliche machen realistische Erfahrungen mit eigenen Schwächen und Stärken. Immer wieder macht man mit jungen Aussteigern, die in sogenannten Sekten aufwuchsen, auch positive Erfahrungen. Man findet eine bessere Selbstkontrolle als bei vielen anderen Gleichaltrigen, eine hohe Zielstrebigkeit und Einsatzbereitschaft. Wenn sich diese Fähigkeiten auf positive Ziele richten lassen, sind sie als Gewinn der "Sektensozialisation" zu werten.

Die Sozialisation in einer geschlossenen, radikalen religiösen oder ideologischen Gruppe hat also auch Folgen, die sich bis zu einem gewissen Grad unabhängig vom Glaubenssystem der Gruppe anhand allgemeiner, konfliktträchtiger Merkmale erfassen lassen. Allerdings sind bereits diese Merkmale bei den Gruppen verschieden ausgebildet; die Feindbilder sind nicht überall so extrem wie bei Scientology, und der Personenkult ist nicht überall so ausgeprägt wie bei Sant Thakar Singh. Von daher relativieren sich auch die Entwicklungsrisiken in den verschiedenen Gruppen. Die Ideenwelt der Gemeinschaft sowie ihre besonderen Praktiken spielen immer mit, deshalb können auch im Rahmen ähnlicher sozialer Strukturen sehr unterschiedliche Familien- und Erziehungskulturen entstehen. Deshalb sollen im nächsten Kapitel nach einigen Vorbemerkungen weitere konkrete Beispiele betrachtet werden, die auch die Unterschiede zwischen den Gruppen berücksichtigen.
 

3. Fallbetrachtungen aus verschiedenen Gemeinschaften

Zuerst zum Grundsätzlichen: Die religiöse und weltanschauliche Prägung der Kinder durch die Eltern ist der Regelfall der Sozialisation, keine Ausnahme und schon gar kein unzulässiger Eingriff in Kindesrechte. Dem Recht der Eltern auf religiöse und weltanschauliche Erziehung ist allerdings eine Grenze gesetzt, nämlich durch höherrangige Güter, vor allem durch das körperliche und seelische Kindeswohl, das dem elterlichen Recht auf religiöse und weltanschauliche Erziehung übergeordnet ist. Umgekehrt dürfen den Eltern und Gruppen vom Staat jedoch keine spezifischeren inhaltlichen Erziehungsziele vorgegeben werden, als sie für die Sicherung des Kindeswohls erforderlich sind. Auch wenn diese aus der Sicht der Mehrheit überholte Erziehungsziele und solche aus fremden Traditionen verfolgen, sind ihre Ideen und Ziele von Staat und Gesellschaft in diesem weiten Rahmen zu akzeptieren. Die Erziehungsziele staatlicher Schulen und Hochschulen müssen allerdings sehr viel spezifischer gefaßt werden, als es staatlicherseits für Familien und Religionsgemeinschaften möglich und gut wäre. Nicht zufällig brechen Konflikte zwischen religiösen Gemeinschaften und dem säkularen bürgerlichen Verfassungsstaat darum häufig an Schulfragen auf, und einige Gemeinschaften versuchen, ihre Kinder durch Privatschulen vor dem Einwirken säkularer (oder ideologisch unverträglicher) Bildungsmaßnahmen abzuschirmen. Aufwachsen in einer "Sekte" heißt für Schulkindern denn auch häufig, von solchen Konflikten betroffen zu werden, sich in zwei Welten mit unvereinbaren Ideen- und Regelsystemen zu bewegen oder in Privatschulen unterrichtet zu werden.

Allerdings läßt sich auch das starke Kriterium "Kindeswohl" in den Grenzbereichen unserer Fragestellung ohne eine kulturelle Werteordnung kaum anwenden. Verstößt eine Erziehung in der Familie, die Kritikfähigkeit und selbständiges Denken nicht anstrebt, wie bei Jehovas Zeugen, deshalb gegen das Kindeswohl, weil sie die Orientierung in der modernen Kultur erschwert - allerdings auch das Leben in der eigenen Gemeinschaft erleichtert? Verstößt eine Erziehung, die den Gehorsam der Frau gegenüber dem Mann verlangt, so gegen das Wohl betroffener Mädchen, so daß staatlich gewarnt oder gar eingegriffen werden muß? Ich will diese Fragen nicht beantworten, aber es wird deutlich, daß es eine global gültige Bestimmung des Kindeswohls nicht geben kann. Bis zu einem gewissen (hoffentlich liberal bemessenen) Grad müssen wir in einer westlichen Kultur für unsere Kinder zu dem Menschenbild und den Lebenszielen dieser Kultur stehen. Die unten folgenden Beispiele entstammen jedoch nicht dem schwierigen Randbereich des Abwägens, sondern betreffen unstreitige, massive Verletzungen des Kindeswohls.

Dabei wird wiederum eine Unterscheidung nötig: Manchmal trifft man auf akutes Leiden von Kindern, wie in dem Fall, in dem auf Anordnung des Sant-Mat-Gurus Thakar Singh Kleinkinder mit verstopften Ohren stundenlang meditieren mußten. Aber nicht alle Entwicklungsrisiken sind mit akutem Leiden oder gar mit Quälereien verbunden, manche, wie die Bildungsfeindlichkeit einer Gemeinschaft, entfalten ihre Negativwirkungen erst im späteren Leben. Weiterhin gibt es gibt sensible Phasen der Entwicklung, in denen bestimmte Erfahrungen stärker wirken als sonst, und in denen Weichen gestellt werden. Daher sind beide Aspekte zu berücksichtigen, die akute Diagnose und die Entwicklungsprognose: Das Leiden eines Kindes stellt ein großes Übel an sich dar, es bedarf nicht des nachweislichen Entwicklungsrisikos, um dagegen einzuschreiten. Aber ein momentan durchschnittliches oder sogar gutes Befinden schließt spätere Entwicklungsrisiken nicht aus, eine Prognose ist daher im Einzelfall ebenfalls erforderlich. Im folgenden werden einige offensichtliche Entwicklungsrisiken mit Beispielen aufgelistet.

Risiken für die seelische und geistige Entwicklung gehen von seelischen Traumata verschiedener Art aus, zum Beispiel durch sexuellen Mißbrauch wie in den Gurukulas von ISKCON oder wie beim rituellen Mißbrauch im Raum des Satanismus.[9] Besonders zu erwähnen ist der jahrzehntelang andauernde, religiös legitimierte und tausende von Kindern betreffende sexuelle Mißbrauch bei den "Children of God" (heute: Family). Ich hatte Gelegenheit, in einer Familie mit mehreren Kinder die schlimmen seelischen Folgen zu erleben und teilweise zu dokumentieren.[10]

Es gibt auch viel weniger dramatische Einzelfälle seelischer Belastung. So berichtete ein ehemaliges Mitglied der neuapostolischen Kirche (NAK), daß die Endzeitlehre dieser Kirche bei ihm als Kind zu nächtlichen Ängsten führte. Die NAK lehrt, daß nur sie an der "ersten Auferstehung" und Entrückung der Gläubigen teil hat, da nur ihre Apostelhierarchie den Heiligen Geist verleihen kann. Alle anderen bleiben auf der Erde zurück und werden erst nach Ablauf des "tausendjährigen Friedensreichs" nach ihren Taten gerichtet. Wenn die Eltern nachts spät heim kamen, fürchtete der kleine Junge deshalb, Christus sei gekommen, habe die Eltern "entrückt" und er sei verlassen zurückgeblieben. Eine solche Angst ist vom Typ her alltäglich, aber die religiöse Lehre machte es Eltern und Kind trotz einer ansonsten guten Beziehung unmöglich, sie zu verarbeiten oder auch nur darüber zu sprechen.

Viele vom Typus her biblizistisch-fundamentalistische christliche Gruppen - auch die Zeugen - rechtfertigen die körperliche Züchtigung aus der Bibel. Dabei kommt es sehr selten zu Gewaltanwendung, die körperlich schädlich ist (Einzelfälle sind jedoch bekannt), der bei weitem größte Schaden wird seelisch angerichtet. Da körperliche Züchtigung ein gesamtgesellschaftliches Problem bildet und darüber in anderem Zusammenhang viel diskutiert wurde, soll dieser Punkt hier nur kurz gestreift werden. Ein besonderes Anliegen möchte ich jedoch erwähnen: Die Rechtfertigung von Gewalt in der Erziehung, überhaupt von Strafen, mit dem Willen Gottes, wie er sich angeblich in der Bibel offenbart, bewirkt häufig eine Verzerrung des Gottesbilds, mit der Menschen später schwer zu kämpfen haben. Dieser Umstand wird von der säkularen Psychologie und Psychotherapie nur zögerlich behandelt, in der kirchlichen Beratung spielt er jedoch eine wichtige Rolle. Oft hängen Korrekturen des Selbstbilds, des Elternbilds und des Gottesbilds unlöslich ineinander und ergeben sich im Rahmen eines einheitlichen Gesprächs- und Verarbeitsungsprozesses. Auch wenn man es mit religiösen Extremgruppen zu tun hat, geht es um Religion, also um existentielle Wahrheit, um den Weg des Menschen zum Heil und um den rechten Weg durchs Leben. Daher erfordert eine gute Beratung und erfolgreiches Helfen nicht selten auch religiöse Kompetenz.

Gesundheitsrisiken gehen von Praktiken aller Art aus, der bekannte Fall der seelisch und körperlich als Mißhandlung zu wertenden Kindermediation bei Sant Thakar Singh wurde bereits erwähnt. Ebenso wurde die religiös begründete Ablehnung moderner Medizin als Risiko in vielen Gruppen erwähnt. Ich hatte einmal mit einem Fall zu tun, bei dem es um die möglicherweise krankheitsverursachende Ernährung eines Kindes ging, das nach den vegetarischen Prinzipien von Fiat Lux nur sehr spärlich versorgt worden war. In diesem Fall ermittelte auch die Staatsanwaltschaft, konnte eine fahrlässige Körperverletzung durch die Eltern jedoch nicht hinreichend belegen. Insgesamt ist dieses Feld allerdings sowohl von den Beweisfragen her, als auch von der Analyse der Kausalzusammenhänge her, eher leichter zu bearbeiten als andere, daher muß es hier nicht weiter dargestellt werden.

Sozalisationsrisiken entstehen in vielfacher Weise durch die Spannungen, die zwischen der Ideenwelt der Gruppe und ihrer Lebensweise einerseits sowie der offenen westlichen Gesellschaft andererseits bestehen. Ein simples, aber keineswegs geringfügiges Beispiel liefern wieder die "Children of God": Kinder und Jugendliche dieser Gruppe wechselten durch das ständige Umherziehen der Familien zum Teil bis zum 16. Lebensjahr ein dutzendmal Wohnort, Land und Sprache. Unter diesen Umständen konnte sich natürlich keine kulturelle Identität herausbilden. Ich habe hochintelligente junge Erwachsene aus dieser Gruppe kennengelernt, die mehrere Sprachen gebrochen anwenden konnten, aber keine wirklich beherrschten - am ehesten noch das gruppeninterne Englisch, das aber für eine höhere Bildung ebenfalls nicht ausreichte. Die Bildungs- und Berufschancen dieser jungen Menschen sind auf Dauer schwer beeinträchtigt. Die krasse Bildungsfeindlichkeit vieler Gruppen beruht natürlich auf der sehr berechtigten Angst, daß die eigenen Werte und Gedanken im Bildungsprozess relativiert werden könnten. Sie führt jedoch häufig zum mangelhaften Erwerb von Kulturtechniken auch abgesehen von der Sprache. Zum Beispiel läßt sich die in der modernen "Multi-Options-Gesellschaft" nur allzu notwendige Kritikfähigkeit und Eigenständigkeit kaum entwickeln, wenn es in der Familie und in der Gruppe keine Diskurs- und Streikkultur gibt. Bei der Beratung von NAK-Austeigern fällt immer wieder auf, daß die aus ihrer Sozialisation mitgebrachte, mangelhafte Konfliktfähigkeit dieser Menschen eine Quelle ständiger Probleme im Alltag darstellt.

Ein ganz anders gelagerter Fall ging kürzlich durch die südwestdeutsche Presse: Der bereits erwähnte VPM betreibt in einem Schloß bei Singen/Hohentwiel ein Schülerwohnheim, vermutlich um seine Doktrin von der vorteilhaften Fremdbetreuung von Kindern in die Praxis umzusetzen. Da eine Heimschule nicht genehmigt wurde, müssen die Bewohner die öffentlichen Schulen Singens besuchen. Dort fielen sie - entgegen der Lehre des Vereins der Menschenkenner - durch extremes Verhalten, massive Regelverstöße usw. auf. Elternvertretung und Lehrer setzten Gemeinde und Schulverwaltung unter Druck, die unmöglichen Zustände zu beenden - ein schwieriges Unterfangen, da den ordentlich gemeldeten Kindern der Besuch öffentlicher Schulen nicht verweigert werden kann. Dem Vernehmen nach half sich das Oberschulamt damit, daß die Kinder auf verschiedene Schulen verteilt wurden, um das Problem für die Mitschüler und Lehrer zwar nicht zu lösen, aber wenigstens zu verdünnen. Wer löst jedoch das massive soziale Problem der Heimkinder selbst? Man kann für sie nur hoffen, daß sie auf kompetente Lehrkräfte und kluge Mitschüler treffen, die ihnen weiterhelfen und die Belastung nicht noch vergrößern.

Ein weithin bekanntes Dauerproblem in Schulen, Kindergärten usw. sei nur erwähnt: die Außenseiter-Position unter Gleichaltrigen, die Kinder der Zeugen Jehovas häufig einnehmen. Da sie die Teilnahme an Festen aller Art, an Ausflügen usw. verweigern müssen, ist es für die Kinder schwierig, in eine "peer-group" integriert zu werden. Das Problem wird oft durch angstmachende Erziehungsmethoden verschlimmert. (Es ist mir jedoch auch ein Fall einer verwöhnenden Erziehung in einer Zeugenfamilie begegnet, mit der die Eltern für ein Einzelkind die Ausfälle an Festen usw. kompensieren wollten. Auch damit erzielten die Eltern in der Pubertät kein rundum günstiges Resultat mehr - allerdings waren sie selbst eher die Leidtragenden als der betreffende Jugendliche.)

Gibt es zu alledem Zahlen? Gibt es Konsequenzen? Eimuth schätzt für Deutschland die Zahl betroffener Kinder auf mehrere hunderttausend, allein 80 000 wachsen bei Jehovas Zeugen auf. Ein gewisser Anteil (punktuelle Schätzung 3%) [11] von Familienrechtsfällen betreffen in Deutschland "Sekten" und Psychogruppen, ein erheblicher Anteil davon wiederum die Zeugen Jehovas. Angesichts des nach Art und Ausmaß von Gruppe zu Gruppe sehr unterschiedlichen Risikos sagen solche Zahlen aber wenig aus. Bei der großen Mehrheit der Gruppen, die als klassische Sekten, als neue religiöse und ideologische Gemeinschaften oder als Psychogruppen gelten, kann ein höheres Risiko für das Kindeswohl als in der Gesamtbevölkerung nicht einfach unterstellt werden. Es handelt sich aber in vielen Fällen um spezifische Risiken, deren Ursachen und Folgen zum Teil anders gelagert sind als üblicherweise, die deshalb Betroffene, Ärzte, Ämter, Lehrer und Helfer oft überfordern, und die deswegen besondere Aufmerksamkeit in Fortbildung und Forschung verlangen.[12]

Zu den rechtlichen Bedingungen staatlichen Eingreifens habe ich keine Ausführungen gemacht, für die Bundesrepublik Deutschland finden sich Übersichten ebenfalls in den Berichten der bereits mehrfach genannten Enquete - Kommission.[13]

Eins sei aber zum Schluß festgehalten: Das staatliche Bildungswesen kontinentaleuropäischer Prägung hat bei allen seinen Schwächen gerade gegenüber den Risiken, denen Kinder in sogenannten Sekten und Pschogruppen ausgesetzt sind, einen hohen präventiven Wert, indem es die Werte und Ideen einer freiheitlichen, demokratischen Gesellschaftsordnung nahezu flächendeckend zu Schulkindern und Jugendlichen transportiert. Das zeigt der Vergleich mit den USA und (in Grenzen) auch mit Großbritannien. Daher sollte neben dem Jugendschutz im engeren Sinn der schulischen Aufklärung, der Fortbildung der Lehrkräfte usw. auch künftig ein hohes Gewicht zukommen. Selbst ein so skurriler Einzelfall wie der des VPM-Heims in Singen belegt, daß eine Extremgruppe dank unseres Schulwesens wenigstens nicht unbehelligt sozialisieren (und fehlsozialisieren) kann, wie es ihr paßt. Eimuth beschreibt dazu einen undramatischen und deshalb umso eindrücklicheren Fall:

"Die neunjährige Vilasamanjari besuchte einige Jahre eine Gurukula... dann kam der Umzug nach Deutschland, und Vilasamanjari mußte eine Volksschule besuchen." Sie erzählt: "Ich habe hier auch gute Freunde in der Karmi-Schule...[14] Über uns wohnt Karoline. Mit ihr rede ich manchmal über Krishna, aber ihre Eltern wollen nicht, daß sie ein Krishna wird..."[15]

Das kleine Mädchen begegnet also durch ihren Schulbesuch intensiv den anderen Überzeugungen ihrer Umwelt. Noch ist sie fest in den Krishna-Kult eingebunden, aber sie sammelt bereits Informationen, die in drei oder fünf Jahren Auswirkungen haben können. Ihre Eltern begegnen über den Umgang ihrer Tochter mit anderen Schülerinnen zum Beispiel dem Elternrecht andersdenkender Mitbürger auf religiöse Erziehung und damit einer Auswirkung unserer freiheitlichen Rechtsordnung. Denn wenn Vilasamanjari nicht aufhört, ihrer Freundin drängend zu predigen, werden die Eltern vielleicht den Umgang unterbinden müssen. Vor der Enquete-Kommission beschrieben die ISKCON-Vertreter einen solchen Fall als Beispiel religiöser Intoleranz in Deutschland und bewiesen damit ungewollt, wie sehr es ihnen selbst noch - bei allem guten Willen - an Dialogfähigkeit im Rahmen unserer freiheitlichen Kultur mangelt. Die Lage für "Sektenkinder" ist also keineswegs hoffnungslos. Wenn wir das Problem weder verharmlosen noch aufbauschen, und wenn wir den Integrations- und Vermittlungskräften unserer Gesellschaft etwas zutrauen, werden sie ihre Wirkung entfalten.

Anmerkungen:

[1] Aus soziologischer Sicht wird „eine Sekte bestimmt durch das Maß, in dem sie in Spannung, Widerspruch und Gegensatz zu ihrer Umwelt steht.“ Endbericht der Enquete-Kommission des Deutschen Bundestages „Sogenannte Sekten und Psychogruppen“ Deutscher Bundestag (Hrsg.) 1998 S.30
[2] Zwischenbericht der Enquete-Kommission des Deutschen Bundestags „Sogenannte Sekten und Psychogruppen“ Bundestags-Drucksache 13/8170 1997 S.22
[3] Zwischenbericht der Enquete-Kommission 1997 a.a.O. S.71-73
[4] Endbericht der Enquete-Kommission des Deutschen Bundestages „Sogenannte Sekten und Psychogruppen“ Deutscher Bundestag (Hrsg.) 1998 S.157-191
[5] Klosinski, G.: Psychokulte - Was Sekten für Jugendliche so attraktiv macht. München 1996
Kurt-Helmuth Eimuth: Die Sekten-Kinder. Freiburg 1996
Werkmappe Sekten, religiöse Sondergemeinschaften, Weltanschauungen: Kinder in Sekten - die 2. Generation. Arbeitsgemeinschaft der österreichischen Seelsorgeämter, Referat für Weltanschauungsfragen der Erzdiözese Wien 1996
[6] Kurt-Helmuth Eimuth a.a.O. S.65ff
[7] Enquete-Kommission (b) des Deutschen Bundestags „Sogenannte Sekten und Psychogruppen“ (Hrsg.): Neue religiöse und ideologische Gemeinschaften und Psychogruppen - Forschungsprojekte und Gutachten der Enquete-Kommission „Sogenannte Sekten und Psychogruppen“. Hamm 1998
[8] Zwischenbericht der Enquete-Kommission des Deutschen Bundestags „Sogenannte Sekten und Psychogruppen“ Bundestags-Drucksache 13/8170 1997 S.20/21
[9] Für dieses schwierige Feld stellte die Enquete-Kommission eine „gespaltene Datenlage“ fest, es wird hier nicht weiter behandelt (Endbericht der Enquete-Kommission des Deutschen Bundestages „Sogenannte Sekten und Psychogruppen“ Deutscher Bundestag (Hrsg.) 1998 S.184-189
[10] Hansjörg Hemminger, Werner Thiede: Kindheit und Jugend bei den Kindern Gottes. Evangelische Zentralstelle für Weltanschauungsfragen, EZW-Texte Stuttgart 4/1996   s. auch Kurth-Helmuth Eimuth a.a.O. S.31ff
[11] Zwischenbericht der Enquete-Kommission des Deutschen Bundestags „Sogenannte Sekten und Psychogruppen“ Bundestags-Drucksache 13/8170 1997 S.23
[12] s. dazu das Fazit der Enquete-Kommission im Endbericht der Enquete-Kommission des Deutschen Bundestages „Sogenannte Sekten und Psychogruppen“ Deutscher Bundestag (Hrsg.) 1998 S.190/191
[13] Zwischenbericht der Enquete-Kommission des Deutschen Bundestags „Sogenannte Sekten und Psychogruppen“ Bundestags-Drucksache 13/8170 1997 S.86ff
Endbericht der Enquete-Kommission des Deutschen Bundestages „Sogenannte Sekten und Psychogruppen“ Deutscher Bundestag (Hrsg.) 1998 S.158ff
[14] Karmi sind die Nicht-ISKCON-Anhänger, die schlechtes Karma ansammeln, Fleisch essen usw.
[15] Kurt-Helmuth Eimuth a.a.O. S.13

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