Dr. habil. Hansjörg Hemminger Stuttgart Manuskript zur Internationalen Fachtagung: "Sekten" - von der Prävention zur Intervention Wien, 13. bis 14.9. 1999 |
In einem städtischen Wohnheim für Alleinerziehende
lebt eine
Mutter mit einem achtjährigen Kind, die sich einer christlichen
Extremgruppe
charismatischer (neopentecostaler) Prägung anschließt. Der
betreuenden
Sozialpädagogin, die zu Anfang nichts über diese Gruppe
weiß,
fällt folgendes auf:
Die Mutter, die sich vorher in der Erziehung hektisch, unsicher und inkonsequent verhielt, macht jetzt einen ruhigeren Eindruck. Das Kind wird viel besser versorgt, was Nahrung, Kleidung, Aufsicht etc. angeht. Nach einigen Monaten engagiert die Mutter sich in ihrer neuen Gemeinde sogar bei der Kinderbetreuung während des Gottesdiensts und zeigt viel mehr Verantwortungsbewußtsein als früher. Allerdings versucht sie auch, andere Mütter aus dem Wohnheim mit emotionalem Druck und durch das Wecken religiöser Ängste anzuwerben. Als das nicht gelingt, bietet sie eine Gebetsgruppe im Wohnheim an, an der schließlich ca. acht Mütter mit ihren Kindern teilnehmen. Dabei wird in der Bibel gelesen, das Gelesene besprochen und gebetet. Das Gebet richtet sich auf Alltagssorgen, auch für die Kinder und ihr Verhalten wird gebetet. Am Schluß geht das Gebet häufig in Zungengesang (Glossolalie) über, die Kinder sind bei all dem meist anwesend, beteiligen sich aber nicht. Die Sozialpädagogin ist unsicher, wie sie sich zu der neuen Entwicklung stellen soll. Auf der einen Seite wird das Kind ordentlicher versorgt als früher. Auf der anderen Seite erklärt die Mutter jetzt jedes störende Verhalten ihres Kinds, sogar wenn es nachts aufwacht und Angst hat, mit dämonischen Einwirkungen, die durch Gebet und Strenge abgewehrt werden müssen. Auch wenn es unfolgsam ist oder widerspricht, steht es aus ihrer Sicht unter dem Einfluß Satans. Die Sozialpädagogin vermutet, daß eine Erziehung, die als Kampf gegen den allgegenwärtigen Satan gedeutet wird, negative seelische Folgen beim Kind haben könnte. Die aggressive und triumphalistische religiöse Sprache erscheint ihr äußerst unangemessen, wenn es um die Beziehung zum eigenen Kind geht. Ihr Versuch, die Mutter auf die natürlichen Bedürfnisse eines Kindes anzusprechen, bewirkt nichts. Selbst der Vorwurf, es ginge ihr beim "Kampf gegen Satan" gar nicht so sehr um das Kind, sondern um ein religiöses Ausagieren, wird von der Mutter ohne Betroffenheit weggesteckt. Die Sozialpädagogin vermutet, daß sämtliche Einwirkungsversuche ihrerseits von der Gemeinschaft als weltliche Blindheit oder als Unglaube eingestuft werden, obwohl die Mutter das ihr gegenüber nicht offen sagt. Schließlich nehmen die Spannungen im Wohnheim so sehr zu, daß Mutter und Kind, mit Unterstützung ihrer Gemeinde, aus der Einrichtung ausziehen. Der achtjährige Junge wird künftig in einer Gemeinschaft aufwachsen, die Außenstehende als Sekte bezeichnen. Auch wenn sie aus theologischer und religionswissenschaftlicher Sicht nicht alle Kriterien dafür erfüllt, sind viele soziologische Kriterien vorhanden: Radikalität, starke Abgrenzung zur Umwelt, großes Sendungsbewußtsein, beherrschende Feindbilder usw.[1] Wie wird sich dieser Umstand auf seine Entwicklung auswirken? Daß ein wichtiger, vielleicht sogar schicksalhafter, Einfluß vorhanden sein wird, läßt sich vermuten. Denn die Erziehungsideen und -methoden der Mutter werden jetzt von der Theologie der Gruppe geprägt - eine radikale Wende im Vergleich zur bisherigen Sozialisation des Kindes. Und nicht nur das: Die Gemeinschaft hat für die Mutter einen hohen Stellenwert; der Junge wird künftig in ihr viel Zeit verbringen, entscheidende Erfahrungen in ihr machen und ihren sozialen Formungsprozessen ausgesetzt sein. Dabei lassen sich bereits zu Anfang selbst von der "sektenkundlich" unerfahrenen Betreuerin negative und positive Aspekte erkennen. Wir haben es jedenfalls mit einer aus der Sicht des Kindeswohls ambivalenten Entwicklung zu tun. Das ist häufig - wenn auch keineswegs immer - der Fall, und die Analyse dieser Ambivalenz wird uns noch zu beschäftigen haben. Ich halte es für wichtig, die Betrachtung des Themas "Kindheit und Jugend in einer Sekte" mit einer nicht eindeutig positiven oder negativen Erfahrung zu beginnen, denn bei einem emotional so hoch besetzten Thema kommt es oft zu schrecklichen Vereinfachungen. Auf der einen Seite sind da die übereifrigen Helfer, die bereits nach staatlichen Eingriffen rufen, wenn Mädchen in langen Röcken statt in Shorts Sport treiben müssen. Da sind Konflikte um die Schulpflicht, um die Evolutionstheorie im Biologie-Unterricht usw., die dazu führen, daß Lehrer und Behörden eine Familie der Zeugen Jehovas oder eine Guru-Gruppe von ihrer häßlichsten Seite erleben. Sie ziehen aus ihren Negativerfahrungen Rückschlüsse auf das Befinden der Kinder - aber sind diese Schlüsse immer zutreffend? Da gibt es aber auf der anderen Seite die rücksichtslose Ausbeutung von Kindern zugunsten einer Ideologie, die blind ist gegenüber ihren natürlichen Bedürfnissen. Es gibt den religiös gerechtfertigten Mißbrauch, es gibt unglaubliche Fälle von Gleichgültigkeit und Vernachlässigung. Umso notwendiger ist eine differenzierte Aufschlüsselung der Effekte, die das "Aufwachsen in einer Sekte" für Kinder und Jugendliche haben kann. Aber führt uns das obige Beispiel wirklich zu diesem
Thema?" Denn
offensichtlich lassen sich Erziehungsideen- und methoden der
betreffenden
protestantisch-fundamentalistischen Gemeinschaft nicht auf andere
Gruppen
außerhalb des christlichen Spektrums übertragen. Es fallen
zwar
Ähnlichkeiten mit dem Erziehungsstil bei Jehovas Zeugen auf. Aber
in beiden christlich geprägten Gruppen bzw. Bewegungen hat
immerhin
Erziehung und Kinderbetreuung einen hohen Stellenwert, die Familie ist
wichtig. Bei Gemeinschaften wie ISKCON, in denen ein
zölibatäres
und asketisches Ideal herrscht (oder herrschte), kam die Erziehung als
Lebensaufgabe zeitweise kaum in den Blick. Einer Gruppe wie
Scientology,
die von einem individuellen Leistungsdenken geprägt wird, kommt
sogar
die Vorstellung davon abhanden, was Erziehung eigentlich ist. Auch was
beim Verein zur Förderung der Psychologischen Menschenkenntnis
(VPM),
bei Ananda Marga, beim Universellen Leben und bei Sant Thakar Singh mit
Kindern und Jugendlichen geschieht, läßt sich damit nicht
vergleichen.
Oder doch? |
Die von unterschiedlichen religiösen und ideologischen
Gemeinschaften
vertretenen Erziehungsziele und -methoden lassen sich inhaltlich kaum
verallgemeinern,
man findet viel mehr Differenzen als Ähnlichkeiten. In drei
Anhörungen
der Enquete-Kommission des Deutschen Bundestags zeigte sich, daß
es "eine große Bandbreite von Verhalten bzw. erzieherischer
Einflußnahmen
gegenüber Kindern gibt." Die problematischen Maßnahmen
reichten
"von subtilen Methoden der Angsterzeugung bis zu offenen Formen
physischer
Gewalt. Allgemeine Strukturmerkmale zu Erziehungskompetenzen
ließen
sich jedoch nicht ableiten."[2]
Allerdings weisen die Lebensorientierungen von Gruppen, die ein soziologisches Sektenkriterien erfüllen, jenseits der unterschiedlichen Glaubenssysteme und -praktiken einige Gemeinsamkeiten in der Beziehungsgestaltung nach innen und außen auf. Zumindest diese lassen sich in ihren möglichen positiven und negativen Auswirkungen auf Kinder und Jugendliche verallgemeinernd beschreiben. Das folgende Schema stützt sich auf die Darstellung konfliktträchtiger Merkmale religiös-weltanschaulicher Gemeinschaften aus dem Zwischenbericht der bereits genannten Enquete-Kommission.[3] Die viel ausführlichere Darstellung im Endbericht: "Kinder und Jugendliche in neuen religiösen und ideologischen Gemeinschaften und Psychogruppen" [4] ist zu komplex angelegt, um für ein kurzes Referat tauglich zu sein - sie sei aber ausdrücklich zu diesem Thema empfohlen. Weiterhin sind die einschlägige Publikation des Jugendpsychiaters Klosinski (Tübingen), des früheren Frankfurter Sektenbeauftragten Eimuth sowie der Erzdiözese Wien ausdrücklich zu erwähnen. [5] Wie wirken sich "Sektenmerkmale" auf Kinder und Jugendliche aus? Die Simplifizierung von Ideen und Verhältnissen, die Überwertigkeit der eigenen Ideen, Ideologisierung und Totalisierung des Denkens, die Abwertung anderer Ansichten bis hin zur Desinformation nach innen und außen (Es handelt sich hier und beim nächsten Punkt um material-instruierende Erziehungsfaktoren.) führen zu
Magisches Denken , bzw. eine pseudo-technische Struktur des Denkens, die das absolut wirkmächtige Wissen exklusiv der eigenen Gruppe zuschreibt und entsprechend absolut gültige Problemlösungen liefert, führt zu
Die Geschlossenheit der Gruppe, die damit verbundene starke Milieukontrolle, hoher Konformitätsdruck nach innen, Feindbilder und eine Schwarz-Weiß-Sicht der Außenwelt, das exklusive Sendungsbewußtsein und der ausgeprägte Gruppenegoismus (Es handelt sich hier und beim nächsten Punkt um formal konditionierende Erziehungsfaktoren.) führen zu
Totalitäre Machtverhältnisse und Personenkult in der Gruppe führen zu
Das Leistungsprinzip, nach dem Wert und Geltung einer Person von der Leistung für die Gruppe und deren Ziele abhängen, und nach der persönliche Interessen und Bedürfnisse zu opfern sind, führt zu
Die Sozialisation in einer geschlossenen, radikalen
religiösen
oder ideologischen Gruppe hat also auch Folgen, die sich bis zu einem
gewissen
Grad unabhängig vom Glaubenssystem der Gruppe anhand allgemeiner,
konfliktträchtiger Merkmale erfassen lassen. Allerdings sind
bereits
diese Merkmale bei den Gruppen verschieden ausgebildet; die Feindbilder
sind nicht überall so extrem wie bei Scientology, und der
Personenkult
ist nicht überall so ausgeprägt wie bei Sant Thakar Singh.
Von
daher relativieren sich auch die Entwicklungsrisiken in den
verschiedenen
Gruppen. Die Ideenwelt der Gemeinschaft sowie ihre besonderen Praktiken
spielen immer mit, deshalb können auch im Rahmen ähnlicher
sozialer
Strukturen sehr unterschiedliche Familien- und Erziehungskulturen
entstehen.
Deshalb sollen im nächsten Kapitel nach einigen Vorbemerkungen
weitere
konkrete Beispiele betrachtet werden, die auch die Unterschiede
zwischen
den Gruppen berücksichtigen. |
Zuerst zum Grundsätzlichen: Die religiöse und
weltanschauliche
Prägung
der Kinder durch die Eltern ist der Regelfall der Sozialisation, keine
Ausnahme und schon gar kein unzulässiger Eingriff in Kindesrechte.
Dem Recht der Eltern auf religiöse und weltanschauliche Erziehung
ist allerdings eine Grenze gesetzt, nämlich durch
höherrangige
Güter, vor allem durch das körperliche und seelische
Kindeswohl,
das dem elterlichen Recht auf religiöse und weltanschauliche
Erziehung
übergeordnet ist. Umgekehrt dürfen den Eltern und Gruppen vom
Staat jedoch keine spezifischeren inhaltlichen Erziehungsziele
vorgegeben
werden, als sie für die Sicherung des Kindeswohls erforderlich
sind.
Auch wenn diese aus der Sicht der Mehrheit überholte
Erziehungsziele
und solche aus fremden Traditionen verfolgen, sind ihre Ideen und Ziele
von Staat und Gesellschaft in diesem weiten Rahmen zu akzeptieren. Die
Erziehungsziele staatlicher Schulen und Hochschulen müssen
allerdings
sehr viel spezifischer gefaßt werden, als es staatlicherseits
für
Familien und Religionsgemeinschaften möglich und gut wäre.
Nicht
zufällig brechen Konflikte zwischen religiösen Gemeinschaften
und dem säkularen bürgerlichen Verfassungsstaat darum
häufig
an Schulfragen auf, und einige Gemeinschaften versuchen, ihre Kinder
durch
Privatschulen vor dem Einwirken säkularer (oder ideologisch
unverträglicher)
Bildungsmaßnahmen abzuschirmen. Aufwachsen in einer "Sekte"
heißt
für Schulkindern denn auch häufig, von solchen Konflikten
betroffen
zu werden, sich in zwei Welten mit unvereinbaren Ideen- und
Regelsystemen
zu bewegen oder in Privatschulen unterrichtet zu werden.
Allerdings läßt sich auch das starke Kriterium "Kindeswohl" in den Grenzbereichen unserer Fragestellung ohne eine kulturelle Werteordnung kaum anwenden. Verstößt eine Erziehung in der Familie, die Kritikfähigkeit und selbständiges Denken nicht anstrebt, wie bei Jehovas Zeugen, deshalb gegen das Kindeswohl, weil sie die Orientierung in der modernen Kultur erschwert - allerdings auch das Leben in der eigenen Gemeinschaft erleichtert? Verstößt eine Erziehung, die den Gehorsam der Frau gegenüber dem Mann verlangt, so gegen das Wohl betroffener Mädchen, so daß staatlich gewarnt oder gar eingegriffen werden muß? Ich will diese Fragen nicht beantworten, aber es wird deutlich, daß es eine global gültige Bestimmung des Kindeswohls nicht geben kann. Bis zu einem gewissen (hoffentlich liberal bemessenen) Grad müssen wir in einer westlichen Kultur für unsere Kinder zu dem Menschenbild und den Lebenszielen dieser Kultur stehen. Die unten folgenden Beispiele entstammen jedoch nicht dem schwierigen Randbereich des Abwägens, sondern betreffen unstreitige, massive Verletzungen des Kindeswohls. Dabei wird wiederum eine Unterscheidung nötig: Manchmal trifft man auf akutes Leiden von Kindern, wie in dem Fall, in dem auf Anordnung des Sant-Mat-Gurus Thakar Singh Kleinkinder mit verstopften Ohren stundenlang meditieren mußten. Aber nicht alle Entwicklungsrisiken sind mit akutem Leiden oder gar mit Quälereien verbunden, manche, wie die Bildungsfeindlichkeit einer Gemeinschaft, entfalten ihre Negativwirkungen erst im späteren Leben. Weiterhin gibt es gibt sensible Phasen der Entwicklung, in denen bestimmte Erfahrungen stärker wirken als sonst, und in denen Weichen gestellt werden. Daher sind beide Aspekte zu berücksichtigen, die akute Diagnose und die Entwicklungsprognose: Das Leiden eines Kindes stellt ein großes Übel an sich dar, es bedarf nicht des nachweislichen Entwicklungsrisikos, um dagegen einzuschreiten. Aber ein momentan durchschnittliches oder sogar gutes Befinden schließt spätere Entwicklungsrisiken nicht aus, eine Prognose ist daher im Einzelfall ebenfalls erforderlich. Im folgenden werden einige offensichtliche Entwicklungsrisiken mit Beispielen aufgelistet. Risiken für die seelische und geistige Entwicklung gehen von seelischen Traumata verschiedener Art aus, zum Beispiel durch sexuellen Mißbrauch wie in den Gurukulas von ISKCON oder wie beim rituellen Mißbrauch im Raum des Satanismus.[9] Besonders zu erwähnen ist der jahrzehntelang andauernde, religiös legitimierte und tausende von Kindern betreffende sexuelle Mißbrauch bei den "Children of God" (heute: Family). Ich hatte Gelegenheit, in einer Familie mit mehreren Kinder die schlimmen seelischen Folgen zu erleben und teilweise zu dokumentieren.[10] Es gibt auch viel weniger dramatische Einzelfälle seelischer Belastung. So berichtete ein ehemaliges Mitglied der neuapostolischen Kirche (NAK), daß die Endzeitlehre dieser Kirche bei ihm als Kind zu nächtlichen Ängsten führte. Die NAK lehrt, daß nur sie an der "ersten Auferstehung" und Entrückung der Gläubigen teil hat, da nur ihre Apostelhierarchie den Heiligen Geist verleihen kann. Alle anderen bleiben auf der Erde zurück und werden erst nach Ablauf des "tausendjährigen Friedensreichs" nach ihren Taten gerichtet. Wenn die Eltern nachts spät heim kamen, fürchtete der kleine Junge deshalb, Christus sei gekommen, habe die Eltern "entrückt" und er sei verlassen zurückgeblieben. Eine solche Angst ist vom Typ her alltäglich, aber die religiöse Lehre machte es Eltern und Kind trotz einer ansonsten guten Beziehung unmöglich, sie zu verarbeiten oder auch nur darüber zu sprechen. Viele vom Typus her biblizistisch-fundamentalistische christliche Gruppen - auch die Zeugen - rechtfertigen die körperliche Züchtigung aus der Bibel. Dabei kommt es sehr selten zu Gewaltanwendung, die körperlich schädlich ist (Einzelfälle sind jedoch bekannt), der bei weitem größte Schaden wird seelisch angerichtet. Da körperliche Züchtigung ein gesamtgesellschaftliches Problem bildet und darüber in anderem Zusammenhang viel diskutiert wurde, soll dieser Punkt hier nur kurz gestreift werden. Ein besonderes Anliegen möchte ich jedoch erwähnen: Die Rechtfertigung von Gewalt in der Erziehung, überhaupt von Strafen, mit dem Willen Gottes, wie er sich angeblich in der Bibel offenbart, bewirkt häufig eine Verzerrung des Gottesbilds, mit der Menschen später schwer zu kämpfen haben. Dieser Umstand wird von der säkularen Psychologie und Psychotherapie nur zögerlich behandelt, in der kirchlichen Beratung spielt er jedoch eine wichtige Rolle. Oft hängen Korrekturen des Selbstbilds, des Elternbilds und des Gottesbilds unlöslich ineinander und ergeben sich im Rahmen eines einheitlichen Gesprächs- und Verarbeitsungsprozesses. Auch wenn man es mit religiösen Extremgruppen zu tun hat, geht es um Religion, also um existentielle Wahrheit, um den Weg des Menschen zum Heil und um den rechten Weg durchs Leben. Daher erfordert eine gute Beratung und erfolgreiches Helfen nicht selten auch religiöse Kompetenz. Gesundheitsrisiken gehen von Praktiken aller Art aus, der bekannte Fall der seelisch und körperlich als Mißhandlung zu wertenden Kindermediation bei Sant Thakar Singh wurde bereits erwähnt. Ebenso wurde die religiös begründete Ablehnung moderner Medizin als Risiko in vielen Gruppen erwähnt. Ich hatte einmal mit einem Fall zu tun, bei dem es um die möglicherweise krankheitsverursachende Ernährung eines Kindes ging, das nach den vegetarischen Prinzipien von Fiat Lux nur sehr spärlich versorgt worden war. In diesem Fall ermittelte auch die Staatsanwaltschaft, konnte eine fahrlässige Körperverletzung durch die Eltern jedoch nicht hinreichend belegen. Insgesamt ist dieses Feld allerdings sowohl von den Beweisfragen her, als auch von der Analyse der Kausalzusammenhänge her, eher leichter zu bearbeiten als andere, daher muß es hier nicht weiter dargestellt werden. Sozalisationsrisiken entstehen in vielfacher Weise durch die Spannungen, die zwischen der Ideenwelt der Gruppe und ihrer Lebensweise einerseits sowie der offenen westlichen Gesellschaft andererseits bestehen. Ein simples, aber keineswegs geringfügiges Beispiel liefern wieder die "Children of God": Kinder und Jugendliche dieser Gruppe wechselten durch das ständige Umherziehen der Familien zum Teil bis zum 16. Lebensjahr ein dutzendmal Wohnort, Land und Sprache. Unter diesen Umständen konnte sich natürlich keine kulturelle Identität herausbilden. Ich habe hochintelligente junge Erwachsene aus dieser Gruppe kennengelernt, die mehrere Sprachen gebrochen anwenden konnten, aber keine wirklich beherrschten - am ehesten noch das gruppeninterne Englisch, das aber für eine höhere Bildung ebenfalls nicht ausreichte. Die Bildungs- und Berufschancen dieser jungen Menschen sind auf Dauer schwer beeinträchtigt. Die krasse Bildungsfeindlichkeit vieler Gruppen beruht natürlich auf der sehr berechtigten Angst, daß die eigenen Werte und Gedanken im Bildungsprozess relativiert werden könnten. Sie führt jedoch häufig zum mangelhaften Erwerb von Kulturtechniken auch abgesehen von der Sprache. Zum Beispiel läßt sich die in der modernen "Multi-Options-Gesellschaft" nur allzu notwendige Kritikfähigkeit und Eigenständigkeit kaum entwickeln, wenn es in der Familie und in der Gruppe keine Diskurs- und Streikkultur gibt. Bei der Beratung von NAK-Austeigern fällt immer wieder auf, daß die aus ihrer Sozialisation mitgebrachte, mangelhafte Konfliktfähigkeit dieser Menschen eine Quelle ständiger Probleme im Alltag darstellt. Ein ganz anders gelagerter Fall ging kürzlich durch die südwestdeutsche Presse: Der bereits erwähnte VPM betreibt in einem Schloß bei Singen/Hohentwiel ein Schülerwohnheim, vermutlich um seine Doktrin von der vorteilhaften Fremdbetreuung von Kindern in die Praxis umzusetzen. Da eine Heimschule nicht genehmigt wurde, müssen die Bewohner die öffentlichen Schulen Singens besuchen. Dort fielen sie - entgegen der Lehre des Vereins der Menschenkenner - durch extremes Verhalten, massive Regelverstöße usw. auf. Elternvertretung und Lehrer setzten Gemeinde und Schulverwaltung unter Druck, die unmöglichen Zustände zu beenden - ein schwieriges Unterfangen, da den ordentlich gemeldeten Kindern der Besuch öffentlicher Schulen nicht verweigert werden kann. Dem Vernehmen nach half sich das Oberschulamt damit, daß die Kinder auf verschiedene Schulen verteilt wurden, um das Problem für die Mitschüler und Lehrer zwar nicht zu lösen, aber wenigstens zu verdünnen. Wer löst jedoch das massive soziale Problem der Heimkinder selbst? Man kann für sie nur hoffen, daß sie auf kompetente Lehrkräfte und kluge Mitschüler treffen, die ihnen weiterhelfen und die Belastung nicht noch vergrößern. Ein weithin bekanntes Dauerproblem in Schulen, Kindergärten usw. sei nur erwähnt: die Außenseiter-Position unter Gleichaltrigen, die Kinder der Zeugen Jehovas häufig einnehmen. Da sie die Teilnahme an Festen aller Art, an Ausflügen usw. verweigern müssen, ist es für die Kinder schwierig, in eine "peer-group" integriert zu werden. Das Problem wird oft durch angstmachende Erziehungsmethoden verschlimmert. (Es ist mir jedoch auch ein Fall einer verwöhnenden Erziehung in einer Zeugenfamilie begegnet, mit der die Eltern für ein Einzelkind die Ausfälle an Festen usw. kompensieren wollten. Auch damit erzielten die Eltern in der Pubertät kein rundum günstiges Resultat mehr - allerdings waren sie selbst eher die Leidtragenden als der betreffende Jugendliche.) Gibt es zu alledem Zahlen? Gibt es Konsequenzen? Eimuth schätzt für Deutschland die Zahl betroffener Kinder auf mehrere hunderttausend, allein 80 000 wachsen bei Jehovas Zeugen auf. Ein gewisser Anteil (punktuelle Schätzung 3%) [11] von Familienrechtsfällen betreffen in Deutschland "Sekten" und Psychogruppen, ein erheblicher Anteil davon wiederum die Zeugen Jehovas. Angesichts des nach Art und Ausmaß von Gruppe zu Gruppe sehr unterschiedlichen Risikos sagen solche Zahlen aber wenig aus. Bei der großen Mehrheit der Gruppen, die als klassische Sekten, als neue religiöse und ideologische Gemeinschaften oder als Psychogruppen gelten, kann ein höheres Risiko für das Kindeswohl als in der Gesamtbevölkerung nicht einfach unterstellt werden. Es handelt sich aber in vielen Fällen um spezifische Risiken, deren Ursachen und Folgen zum Teil anders gelagert sind als üblicherweise, die deshalb Betroffene, Ärzte, Ämter, Lehrer und Helfer oft überfordern, und die deswegen besondere Aufmerksamkeit in Fortbildung und Forschung verlangen.[12] Zu den rechtlichen Bedingungen staatlichen Eingreifens habe ich keine Ausführungen gemacht, für die Bundesrepublik Deutschland finden sich Übersichten ebenfalls in den Berichten der bereits mehrfach genannten Enquete - Kommission.[13] Eins sei aber zum Schluß festgehalten: Das staatliche Bildungswesen kontinentaleuropäischer Prägung hat bei allen seinen Schwächen gerade gegenüber den Risiken, denen Kinder in sogenannten Sekten und Pschogruppen ausgesetzt sind, einen hohen präventiven Wert, indem es die Werte und Ideen einer freiheitlichen, demokratischen Gesellschaftsordnung nahezu flächendeckend zu Schulkindern und Jugendlichen transportiert. Das zeigt der Vergleich mit den USA und (in Grenzen) auch mit Großbritannien. Daher sollte neben dem Jugendschutz im engeren Sinn der schulischen Aufklärung, der Fortbildung der Lehrkräfte usw. auch künftig ein hohes Gewicht zukommen. Selbst ein so skurriler Einzelfall wie der des VPM-Heims in Singen belegt, daß eine Extremgruppe dank unseres Schulwesens wenigstens nicht unbehelligt sozialisieren (und fehlsozialisieren) kann, wie es ihr paßt. Eimuth beschreibt dazu einen undramatischen und deshalb umso eindrücklicheren Fall: "Die neunjährige Vilasamanjari besuchte einige Jahre eine Gurukula... dann kam der Umzug nach Deutschland, und Vilasamanjari mußte eine Volksschule besuchen." Sie erzählt: "Ich habe hier auch gute Freunde in der Karmi-Schule...[14] Über uns wohnt Karoline. Mit ihr rede ich manchmal über Krishna, aber ihre Eltern wollen nicht, daß sie ein Krishna wird..."[15] Das kleine Mädchen begegnet also durch ihren Schulbesuch intensiv den anderen Überzeugungen ihrer Umwelt. Noch ist sie fest in den Krishna-Kult eingebunden, aber sie sammelt bereits Informationen, die in drei oder fünf Jahren Auswirkungen haben können. Ihre Eltern begegnen über den Umgang ihrer Tochter mit anderen Schülerinnen zum Beispiel dem Elternrecht andersdenkender Mitbürger auf religiöse Erziehung und damit einer Auswirkung unserer freiheitlichen Rechtsordnung. Denn wenn Vilasamanjari nicht aufhört, ihrer Freundin drängend zu predigen, werden die Eltern vielleicht den Umgang unterbinden müssen. Vor der Enquete-Kommission beschrieben die ISKCON-Vertreter einen solchen Fall als Beispiel religiöser Intoleranz in Deutschland und bewiesen damit ungewollt, wie sehr es ihnen selbst noch - bei allem guten Willen - an Dialogfähigkeit im Rahmen unserer freiheitlichen Kultur mangelt. Die Lage für "Sektenkinder" ist also keineswegs hoffnungslos. Wenn wir das Problem weder verharmlosen noch aufbauschen, und wenn wir den Integrations- und Vermittlungskräften unserer Gesellschaft etwas zutrauen, werden sie ihre Wirkung entfalten. |
Copyright des Textes bei Dr. habil. Hansjörg Hemminger; HTML durch Ilse Hruby