Aufwachsen in einer sogenannten Sekte 

 Sozialisationsbedingungen und Auswirkungen auf die Adoleszenz 

von Franziska Weibel Rüf, Zürich, und Stefanie Rauchfleisch, Basel

mit der freundlichen Genehmigung zur Veröffentlichung von Franziska Weibel Rüf

Kinder, die in einer sogenannten Sekte aufwachsen, laufen Gefahr, im Zuge ihrer Entwicklung keine Fähigkeit zu eigenständigem Denken und Handeln zu erwerben. Dies äussert sich vor allem in der Schwierigkeit, nach dem allfälligen Ausstieg aus der Gruppe ein eigenbestimmtes Leben zu führen. Die Autorinnen dissertierten an der Universität Zürich (Institut Psychopathologie des Kindes- und Jugendalters) mit der Arbeit «Kindheit in religiösen Gruppierungen – zwischen Abgrenzung und Ausgrenzung».
                                


Nach Expertenschätzungen wachsen allein in Deutschland etwa 100 000 bis 200 000 Kinder und Jugendliche in sogenannten Sekten (nachfolgend als «Gruppierungen» mit vereinnahmender Tendenz bezeichnet) auf. Anzunehmen ist, dass ihre Zahl durch die zunehmende Vielfalt des religiösen und weltanschaulichen Angebots künftig noch ansteigen wird. Durch die Gruppenzugehörigkeit werden die Kinder in einem Milieu gross, das sich an einer unanfechtbaren Ideologie orientiert und sich von der Aussenwelt abzugrenzen oder gar abzuschotten versucht. Dies aus der Überzeugung heraus, als Einzige im Besitz der absoluten «Wahrheit» zu sein.

Zum Leben gemäss gruppenspezifischen Geboten und Verboten gehört im Extremfall, dass die Heranwachsenden ausschliesslich gruppeneigene Erziehungs-, Bildungs- und Freizeiteinrichtungen in Anspruch nehmen dürfen. Kontakte und Erfahrungen ausserhalb der Gruppe bleiben folglich aus oder sind zumindest eingeschränkt. Dies führt bei den Kindern, die im Gegensatz zu ihren Eltern ausschliesslich das Leben innerhalb der Gruppe kennen, zu Weltfremdheit. Mitunter wird ihnen die Möglichkeit genommen, im Laufe ihrer Entwicklung zu lernen, sich auch ausserhalb der Gruppe zurechtzufinden.

Erziehung zu absolutem Gehorsam 


Je mehr sich die Mitglieder von der Aussenwelt abkapseln, desto stärker vermag die Gruppenleitung mit ihren Vorgaben das Alltagsleben ihrer Mitglieder zu beeinflussen und zu steuern. Unter diesen Umständen ist die Kindererziehung oftmals vom Bestreben geprägt, die heranwachsende Nachkommenschaft möglichst auf das Glaubenssystem der betreffenden Gruppe auszurichten.

«Es gab 100 und 1000 Regeln. Das ganze Leben war eigentlich von denen bestimmt», sagt Katja T. (Alle Namen wurden geändert.) Sie gehörte der endzeitlich ausgerichteten Gemeinschaft Kinder Gottes (heute «Die Familie» genannt) an. Während nahezu zehn Jahren lebte sie mit ihrem Mann und ihren fünf Kindern in gruppeneigenen Wohngemeinschaften, Kommunen genannt. Sie berichtet: «Unser ältester Sohn ist eigentlich schon als kleines Kind ein sehr eigenwilliger Typ gewesen, der seine eigenen Ideen hat und so ein Unabhängiger ist. [. . .] Da ist wahnsinnig viel Druck ausgeübt worden, auch auf mich, ihn dazu zu bringen, sich so und so zu verhalten. Von dem, was er einfach mal auf seine Art wollte, durfte er gar nichts ausleben. [. . .] Man hat den Kindern eigentlich ständig diktiert, was sie empfinden sollen und wie sie die Dinge anschauen sollen. [. . .] Eigenständigkeit war überhaupt nicht gefragt.»

Werden – wie in Katjas Fall – die gruppeneigenen Glaubensinhalte und Handlungsanweisungen für unanfechtbar erklärt, gehört das Fördern einer eigenen Meinungsbildung und Kritikfähigkeit, die die Heranwachsenden zu eigenständigem Denken und Handeln befähigen, nicht zu den erklärten Erziehungszielen. So fehlt den Kindern jede Unterstützung, wenn es darum ginge, mit zunehmendem Alter ein selbstbestimmtes, eigenverantwortetes Leben führen zu lernen.

Das ist dann der Fall, wenn innerhalb der Gruppe eine kritikfeindliche Haltung herrscht und die Heranwachsenden in erster Linie dazu erzogen werden, streng nach den gruppenspezifischen Geboten und Verboten zu leben, ungeachtet ihrer individuellen Bedürfnisse, Interessen und Fähigkeiten. Erreicht wird dies vor allem in stark hierarchisch strukturierten Gruppierungen durch die Erziehung zu absolutem Gehorsam, oft unter Einsatz der Prügelstrafe. Meist dominieren aber auch subtile, psychische Druckmittel, indem übermässig intensiv an das Gewissen und die Vernunft der Kinder appelliert wird. Solche Erziehungshaltungen können eine übersteigerte Autoritätshörigkeit zur Folge haben und ein Abhängigkeitsverhältnis schaffen. Dürfen und sollen die Heranwachsenden die vermittelten Glaubensinhalte nicht hinterfragen, wird der Prozess der Ablösung von den Eltern und gegebenenfalls von der Gruppe massiv erschwert, wenn nicht gar verhindert. Die Gefahr ist gross, dass die «Abnabelung» nicht gelingt oder aber mit einem totalen Bruch mit den Eltern und der Gemeinschaft einhergeht.

Das Leben in zwei Welten 


Besuchen die Heranwachsenden eine öffentliche Schule, was meistens der Fall ist, bietet sich ihnen die Möglichkeit, auch gruppenfremde Sicht- und Denkweisen kennen zu lernen. Problematisch ist jedoch, wenn die Eltern darauf bestehen, dass sich ihre Kinder im schulischen Alltag von allem fernhalten, was den gruppenspezifischen Glaubensinhalten entgegenstehen könnte. «Es hiess immer, wir, die wir die Wahrheit haben, hier, und dort die Welt», erzählt Claudia. Sie ist in einer Familie aufgewachsen, die einer christlich-fundamentalistischen Gemeinschaft, den Evangelischen Taufgesinnten, angehörte. Ihr sei von klein auf vermittelt worden, dass die Aussenwelt böse und verdorben und entsprechend zu meiden sei. So habe sie zwar eine öffentliche Schule besucht, habe aber in ihrer Freizeit keine Kontakte zu Nichtmitgliedern pflegen und an keinen ausserschulischen Aktivitäten teilnehmen dürfen. «Wir durften nie mitmachen, wir waren einfach immer Aussenseiter.»

Lehnen sich die Heranwachsenden gegen die elterlichen Handlungsanweisungen auf, müssen sie dies zumeist heimlich tun. Lukas, mit Eltern bei den Zeugen Jehovas, berichtet, dass er im Jugendalter trotz ideologisch begründeten Verboten heimlich regelmässig an Anlässen eines Sportvereins teilgenommen und seine Freizeit vorwiegend mit Nichtmitgliedern verbracht habe. Dazu sagt er: «Ich habe alles gleichwohl mitgemacht, aber alles mit einem schlechten Gewissen. [. . .] Du musst dich ja dermassen verarschen, dass du nicht anders kannst, als deine Strategien aufzubauen, wie du das Leben bewältigen und gewisse Bedürfnisse wegstecken kannst, oder einfach alles hintenherum machst und dann anfängst, dich an ein Doppelleben zu gewöhnen.»

Entscheidung für den Ausstieg 


Mit zunehmendem Alter wird es immer schwieriger, persönliche Bedürfnisse den Vorgaben der Gruppierung unterzuordnen. Folglich nimmt auch der Wunsch, sich von der Gruppe zu lösen, zu. «Für mich war es eher so ein diffuses Etwas, das mich rausgedrängt hat, mehr ein Gefühl, keinen Platz zu haben, nicht atmen zu können, [. . .] nicht das machen zu können, was ich will», erzählt Lukas. Als er sich für eine Ausbildung im künstlerischen Bereich interessierte, wurde sein Vorhaben innerhalb der Gemeinschaft der Zeugen Jehovas nicht gutgeheissen. Trotz gruppeninternen Widerständen begann er mit der Ausbildung und kam im neuen Umfeld mit vielem ihm früher «Verbotenem» in Kontakt. «Eine neue Welt halt, mit allen Konsequenzen. Ich habe das auch ausgelebt», meint er. Er habe alles tun wollen, was ihm immer verboten worden war, «und zwar ohne schlechtes Gewissen, ohne Frage, ohne nichts». In dieser neuen Welt habe er geraucht, Alkohol getrunken, Haschisch konsumiert und auch erstmals eine Freundin gehabt. Dies habe ihm so gut gefallen, dass er sich schliesslich von der Gruppe getrennt habe.

Die Entscheidung für den Ausstieg aus einer Gruppe ist als Prozess zu verstehen, dem eine längere Phase vorausgeht, während derer der Austrittsgedanke reift. Die Gründe dafür können einerseits innerpsychische Konflikte sein, die bei den Betreffenden verstärkt zu einem Leidensdruck führen und Kritik an der Gruppe auslösen. Dies ist beispielsweise der Fall, wenn – wie bei Lukas – individuelle Bedürfnisse durch die von der Gruppe verlangte Lebensweise nicht befriedigt werden können. Wenn sich die Jugendlichen oder jungen Erwachsenen ohnehin in der Ablösung von ihren Eltern befinden oder wenn schlechte Erfahrungen innerhalb der Gruppen überhand nehmen, wird der Ausstiegswunsch akut. Andererseits führen oftmals auch äussere Umstände dazu, dass sich die Mitglieder von der Gruppe lösen. Eine bedeutende Rolle spielen dabei zum Beispiel Veränderungen in zwischenmenschlichen Beziehungen, wie beispielsweise eine Scheidung, ein Wohnortswechsel oder der Beginn einer beruflichen Ausbildung.

Auf der Suche nach einer neuen Identität 


Besonders schwer fällt die Loslösung dann, wenn sich die Betreffenden zwischen der Gruppe und ihrer Familie entscheiden müssen, weil der Ausstieg mit einem Beziehungsabbruch einhergeht. Sehr hilfreich und wichtig sind in dieser Phase deshalb nicht gruppenzugehörige Familienangehörige, z. B. Grosseltern oder Freunde, die den Austretenden zu Beginn ein soziales «Auffang»-Netz bieten können. Ist der Austritt aus der Gruppe vollzogen, müssen die Aussteiger/- innen versuchen, sich im neuen Leben ausserhalb der Gruppe zurechtzufinden. Diese Phase ist oftmals durch Orientierungslosigkeit geprägt, da das Wert- und Normsystem neu strukturiert und definiert werden muss. Julia musste sich, mit 17 Jahren, in der Zeit unmittelbar nach der Loslösung von der Gemeinschaft des Universellen Lebens, erst einmal daran gewöhnen, ihren eigenen Weg im Leben zu gehen. «Da es vorher immer eine Art Leitfaden gegeben hat, war ich dann schon ein bisschen verloren, als mir niemand mehr gesagt hat, dass ich das und das machen und denken soll. [. . .] Ich war dann wie unsicher, so in der Realität zu leben. Vorher war ich immer ein bisschen in einer Scheinwelt, bestimmt durch das, was meine Eltern gelebt und gemacht haben.»

Das Vakuum überbrücken 


Als Claudia aus der Gemeinschaft der Evangelischen Taufgesinnten ausstieg, war sie Mitte zwanzig. Sie habe sich zunächst wie jemand gefühlt, der nach jahrelanger Haft aus dem Gefängnis entlassen worden sei. Nur mühsam habe sie sich von den in der Gruppe geltenden Normen gelöst, «die Verbote haben so stark gewirkt». So sei es ihr nie in den Sinn gekommen, in eine Bibliothek zu gehen, dabei habe sie als Mitglied stark unter dem Lese- und Bibliotheksverbot gelitten. Lukas beschreibt diese Phase der Neuorientierung als eine Art «Zwischenwelt». «Ich war eigentlich draussen (nicht mehr Mitglied der Zeugen Jehovas), aber noch nirgendwo sonst drinnen.» Es habe nicht gereicht, «lange Haare zu haben, ein Auto zu fahren und Shit zu rauchen».

Um die Orientierungslosigkeit zu überbrücken, wenden sich viele «Ehemalige» einem neuen System zu, das ähnliche Strukturen aufweist wie die verlassene Gruppierung. «Nach diesem Intensiven in dieser Gruppe gab es ein Vakuum, so dass ich dann eigentlich fast fluchtartig in eine Freikirche gegangen bin, die äusserlich gewisse Ähnlichkeiten mit der Gruppe hatte», erzählt Katja.

Wie die Beispiele zeigen, besteht die Herausforderung für die ehemaligen Mitglieder darin, sich von früheren Wert- und Normorientierungen zu lösen und sie durch neue zu ersetzen. Betroffen ist davon das Religionsverständnis, aber auch zu einem grossen Teil das Verständnis von sich selbst und von der Umwelt. «‹Ich bin kein Teil dieser Welt› – das sind Dinge, die nimmst du auf, die verinnerlichst du, und die schüttelst du nicht mehr ab», sagt Lukas. Auch heute werde er noch gelegentlich von diesen Ausgeschlossenheitsgefühlen heimgesucht, aber er habe inzwischen gelernt, besser damit umzugehen.

Auswahl von Informations- und Beratungsstellen: (auf den Stand von 2010 aktualisiert)



                         

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